Hochinteressante Geschichtsstunde mit Historiker Christopher Clark

Der Historiker Christopher Clark stellte im Schlosshotel Kronberg sein Buch „Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ vor.

Foto: Wittkopf

Kronberg (pf) – „Mein Buch hört auf, als die ersten Schüsse fallen.“ Der australische Historiker Christopher Clark, der übrigens hervorragend und fast akzentfrei Deutsch spricht, las am Mittwoch vergangener Woche im Schlosshotel aus seinem Buch „Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“. Das 2012 in englischer Sprache und im September 2013 in deutscher Übersetzung erschienene Sachbuch, längst ein Bestseller, sorgte unter Historikern für Aufsehen, stellt es doch die bislang vorherrschende These von einer besonderen Kriegsschuld des deutschen Kaiserreiches in Frage und bietet einen völlig neuen Blick auf die Vorgeschichte und die Ursachen, die zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor genau hundert Jahren führten.

Klug, temperamentvoll und manchmal mit wunderbar hintergründigem Humor zog der eloquente Autor sein Publikum vom ersten Moment an in seinen Bann. Den Ersten Weltkrieg nannte er ein epochales Desaster, das nicht nur rund 17 Millionen Menschenleben forderte, sondern auch vier Reiche verschlang. Diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bereitete erst den Weg zum Faschismus, zur Oktoberrevolution und zum russischen Bürgerkrieg, zum Siegeszug des Nationalsozialismus in Deutschland und zum Holocaust.

Bei der Frage nach Ursachen und Schuld aber kommt er zu anderen Schlüssen als viele Historiker vor ihm. Zwar gab es schon 1991 rund 25.000 Bücher, die sich mit diesem Thema befassten und die man unbedingt hätte lesen müssen, wie er augenzwinkernd anmerkte, das Thema sei „bis zum Erbrechen aufgearbeitet“, wie ihn eine Kollegin ermunterte, als er mit dem Schreiben begann, doch die Debatte wird weitergehen, ist Clark überzeugt. Denn die Geschichte sei frisch und gerade in der heutigen Zeit wieder erstaunlich modern und aktuell.

Auch die Attentäter von Sarajevo, zog er Parallelen, waren Terroristen, junge, radikalisierte und lebensunerfahrene Selbstmordattentäter, die sich nach dem Mordanschlag auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand mit Zyankali das Leben nehmen sollten. Dieses Thema, meinte er, sei uns heute in unserer globalisierten multipolaren Welt deutlich näher als den Menschen vor 20 oder 30 Jahren. Und auch die Politiker von damals seien eigentlich Zeitgenossen unserer heutigen Politiker.

Als er 2011 an seinem Buch schrieb und über den im September 1911 begonnenen italienisch-türkischen Krieg mit dem Angriff Italiens auf Tripolitanien, das heutige Libyen, seien gerade wieder Bomben auf Tripolis, Bengasi und Tobruk gefallen, diesmal abgeworfen von Nato-Bombern. 1911 war es Italien gewesen, das erstmals Flugzeuge zur Luftaufklärung einsetzte und aus der Luft Städte bombardierte. Damals, schilderte er, mussten die Piloten noch die Bomben zwischen den Knien halten, den Zünder ziehen und sie dann aus dem Fenster über ihrem Ziel abwerfen, ohne dabei die Gewalt über ihr Flugzeug zu verlieren. Aber die Italiener setzten auch Luftschiffe ein, aus denen der Bombenabwurf leichter war. Dieser Krieg in Nordafrika, meinte Clark, sei Urauslöser des Großen Krieges, des Ersten Weltkrieges gewesen, der drei Jahre später begann. Wie es aber politisch dazu kam, sei eine undurchsichtige chaotische Entscheidungsfindung gewesen. Denn Staaten seien keine Einzelpersonen. Es sei schwierig auszumachen, welche Staatsmänner – denn es gab damals nur Männer in der Politik – in dem jeweiligen Land gerade die Macht hatten und den politischen Kurs bestimmten. Frankreich beispielsweise habe damals innerhalb weniger Jahre 16 Außenminister gehabt, zwei von ihnen seien sogar zweimal im Amt gewesen, eine Drehtür der Macht. Aus England seien doppelbödige Signale gekommen. Und zwischen den Bündnispartnern Russland und Frankreich wuchs die Bereitschaft, einen Krieg in Kauf zu nehmen. Denn bis dahin hatten sich Russland und Frankreich stets heraushalten wollen, wenn es um Konflikte des jeweils anderen auf dem Balkan oder in Nordafrika ging. Das belegte Clark anhand vieler Briefe, Dokumente und überlieferter Gespräche zwischen den Politikern Frankreich und Russlands, die er detailliert schilderte. Das Serbienproblem sei eine Sollbruchstelle gewesen. Einen Kriegsplan aber habe es nicht gegeben. Das sei kein Freispruch für die Deutschen, betonte Clark. Denn gleichzeitig erklärten hohe deutsche Befehlshaber damals, je eher es einen Krieg gäbe desto besser, ein Beweis für ihre aggressive Haltung. Aber das müsse ins Gesamtgefüge eingebettet werden.

Rasche Veränderungen auf dem Balkan, immer neue Herausforderungen, wechselnde Machtverhältnisse und Interessenkonflikte seien damals zusammen gekommen. Das sei ein multilateraler Prozess gewesen mit wechselseitigen Beeinflussungen. Die Komplexität der gemeinsamen europäischen Kultur und Geschichte müsse man wahr- und ernst nehmen. Einen allein schuldigen Bösewicht wie bei James Bond, der eine weiße Katze auf seinem Schoss mit einer Prothesenhand streichelt, – der den Krieg plante, wollte und absichtlich verursachte, den habe es nicht gegeben. Bereitwillig beantwortete Christopher Clark nach Ende seiner Lesung zahlreiche Fragen aus dem interessierten Publikum. Ob es Alternativen zu einem Siegfrieden gegeben habe oder nach der Rolle des deutschen Kaisers werde gefragt. Der sei ein Akteur unter vielen gewesen, erklärte der Historiker. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg habe ihn kalt gestellt und ausdrücklich auf Nordlandtour geschickt. Bis dahin habe er sich völlig verfassungskonform verhalten. Deutschland habe mit seinem U-Boot-Krieg Amerika zwar später in den Krieg gezwungen, der Kaiser aber sei dagegen gewesen.

Fragen nach der Moral und nach den wirtschaftlichen Gesichtspunkten fand Clark besonders interessant. Beide Aspekte, meinte er, hätten damals keine wesentliche Rolle gespielt. Die Politiker hätten sich unter Zeitdruck und Handlungszwang gesehen, hätten gemeint, die jeweiligen Gegner drängten ihnen den Krieg auf. Und wirtschaftliche Argumente hätten damals in der Politik erstaunlicherweise keine Rolle gespielt, obwohl Wirtschaftsleute alle gegen einen Krieg waren. „Es war das komplexeste Ereignis aller Zeiten“, fasste der Buchautor zusammen, ehe er geduldig die vielen Bücher signierte, die ihm sein Publikum auf den Tisch legte.



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