Auf der Suche nach der verlorenen Heimat

Interessiert lauschten die Wallfahrer den Schilderungen des emeritierten Weihbischofs Gerhard Pieschl, der aus der Perspektive eines Zeitzeugen von seiner Jugend als Heimatvertriebener berichtete. Foto: Schemuth

Königstein (el) – Die St. Annaberg-Gedächtniswallfahrt erinnert jedes Jahr an den wichtigsten katholischen Wallfahrtsort Oberschlesiens auf dem Annaberg. Jahrhundertelang galt der Annaberg als Wallfahrts-Zentrum. In dieser Stätte wurde die heilige Anna verehrt. Als die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg Schlesien verlassen mussten, verloren sie nicht nur ihre Heimat, sondern auch diesen Wallfahrtsort, der ihnen so viel bedeutete. Die Erinnerung an die Schutzpatronin – die heilige Anna – trugen die Menschen auch in der Ferne in ihren Herzen. So steht der Annaberg synonym für die verlorene Heimat. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden an mehreren Orten, auch in Königstein, Ersatz-Wallfahrtsstätten eingerichtet, zu denen man pilgern konnte, um die alten Traditionen aufrechtzuerhalten. Ab 1946 bildete sich Königstein als ein solcher Ort heraus, den die Menschen auf der Suche nach den eigenen Wurzeln ansteuerten. Im Mittelpunkt dieses religiösen Zentrums der heimatvertriebenen Katholiken stand die Kollegskirche in Königstein, die in diesen Tagen restauriert wird, mit ihrer Madonnenfigur, der „Mutter der Vertriebenen“. 

Auch am vergangenen Wochenende sollten die Menschen zahlreich nach Königstein pilgern, um an der nunmehr 60. St. Annaberg-Gedächtniswallfahrt teilzunehmen. Der Gottesdienst fand aufgrund der Restaurierungsmaßnahmen ausnahmsweise mal nicht in der Kollegskirche statt, sondern im Haus der Begegnung. Auf das Rosenkranzgebet folgte die Begrüßung der Wallfahrer durch Bürgermeister Leonhard Helm. Daran schloss sich das Festhochamt an, das von Dr. Gerhard Pieschl, emeritierter Weihbischof im Bistum Limburg und ehemaliger Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge, zelebriert wurde. Pieschl war es auch, der während der „Heimatstunde“, die am frühen Nachmittag folgte, als Zeitzeuge unter dem Aspekt „70 Jahre Vertreibung“ aus seinem Leben berichtete.

Die Wallfahrer, die nach Königstein kommen – ob Schlesier, Ermländer oder Sudetendeutsche – verbindet ihre Geschichte, sagt Patricia Ehl, Vorsitzende der Ortsgruppe des Bundes der Vertriebenen in Falkenstein und Königstein, die die vom Heimatwerk Schlesischer Katholiken und der Stadt Königstein durchgeführte Wallfahrt zusammen mit Christel Stenzel-Pfaff als Schnittstelle vor Ort organisiert hat.

Schon am Morgen der Wallfahrt sorgte ein Feuermelder kurz für Aufregung, der wohl dem aufsteigenden Weihrauch geschuldet war. Los ging es dann in der Heimatstunde mit einer Bachkantate und Christel Stenzel-Pfaff am Flügel im Haus der Begegung. Etwas für Auge und Ohr, wie der emeritierte Weihbischof in Bezug auf das ausgewählte Musikstück feststellte, ehe er in seine Schilderungen aus der Heimat einstieg. Das Ohr stehe für das typisch Evangelische, während das Auge die katholische Seite darstelle, so Pieschl, der den leider nur spärlich besetzten, großen Saal mit einem alten, länglichen Lederkoffer betrat. Dabei habe es sich um dasselbe Gepäckstück gehandelt, mit dem er 1948 auf der Suche nach dem Schülerkonvikt (gemeint ist das Albertus-Magnus-Kolleg) in Königstein angekommen sei, so Pieschl. Zum Inhalt des Koffers lässt sich einiges aussagen. Vorab nur so viel: Er enthielt außer einen Kartoffelsack auch ein Federbett. So beladen war jedoch schnell klar, dass sich der junge Mann bei seiner Ankunft in der Kurstadt erst mal ordentlich verlaufen hatte. Fälschlicherweise war er erst im Internat gelandet, das der Verein „Innere Mission“ der evangelischen Kirche in der Villa Andreae eingerichtet hatte. Schnell habe man festgestellt: „Der passt eher in die Kaserne am Bahnhof!“ Gemeint war die katholisch-theologische Anstalt. Maximilian Kaller war 1930 zum Bischof von Ermland geweiht worden. In Königstein hatte er zusammen mit Adolf Kindermann begonnen, ein Priesterseminar, eine philosophisch-theologische Hochschule sowie ein Gymnasium aufzubauen. Hierher zog es den jungen Pieschl, der von seinen Erfahrungen als heimatvertriebener Bub berichtete.

Vor allem seiner Mutter habe es zu schaffen gemacht, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Deutsche von den Tschechen gezwungen wurden, die Heimat zu verlassen. Der Mutter war es ganz wichtig, die Schlüssel zum Haus mitzunehmen, falls sie zurückkehrten. Ein Bischof aus Ölmütz habe ihm später die Schlüssel zu einem Franziskanerkloster gegeben, so Pieschl, der erst nicht glauben wollte, dass sie passen. Dann habe er die Schlüssel eines Tages doch ausprobiert und zu seinem Erstaunen festgestellt, dass sie passen und der Bischof Wort gehalten hatte.

Auch ein Messgewand hält Pieschl jetzt, während seiner Schilderungen im Haus der Begegnung, in den Händen. Dieses sei von tschechischen Nonnen aus Fahnenstoff hergestellt worden – aus Dankbarkeit dafür, dass man eine von ihnen mit Medikamenten versorgt habe. So weit der Inhalt des Koffers, der Erinnerungen enthielt, die fast Heimweh nach einem unbekannten Ort aufkommen ließen.

Schon früh habe er Bekanntschaft mit der tschechischen Armee gemacht, so der Zeitzeuge Pieschl, dessen Geburt am 23. Januar 1934 seinem Vater, der zu der Zeit in der Tschechischen Armee diente, mitgeteilt wurde. Damit der Deutsche nicht etwas erfand, nur um Sonderurlaub zu bekommen, schickte man sicherheitshalber einen Polizeibeamten zum Haus der Familie, um sich von der Geburt des Jungen zu überzeugen. Diese Begebenheit zeigte: Einschränkungen, die man als Deutscher in Schlesien hinnehmen musste, wurden mit den Jahren immer gravierender.

Man schreibe das Jahr 1938: Gerhard Pieschl war erst vier Jahre alt und trotzdem kann er sich noch daran erinnern, dass seine Großmutter und er im Leiterwagen bei der tschechischen Polizei in seinem Heimatort Mährisch-Trübau vorfahren mussten, um das Radio der Familie abzugeben, da man den Deutschen nicht mehr traute. Als kleiner Junge habe er nicht verstanden, warum die Leute so aufgeregt waren, so Pieschl.

Es sollte noch schlimmer für die Familie kommen. Der Vater hatte die Chance, Offizier zu werden, lehnte diese jedoch ab, da er sich dann zum tschechischen Volkstum hätte bekennen müssen. „Alles, nur nicht so was!”, habe sich der Vater empört. Bald befand man sich auf der Flucht vor den Russen, kam aber nicht weit, denn die Tschechen hatten die Straßenschilder einfach umgedreht. Viele Flüchtlinge ließen sich ebenfalls davon in die Irre führen, sodass man schließlich nach einem langen Marsch feststellen musste, dass man im Kreis gelaufen war. Was muss das für ein Gefühl für den jungen Pieschl gewesen sein, im Feld liegend den angreifenden Tieffliegern zusehen zu müssen? Kurz darauf wurden er und seine Familie in einem Lager interniert, aus dem man gottseidank habe in der Dunkelheit fliehen können. Gefahren habe es weiterhin jede Menge gegeben. Leichtsinnig warteten die Zivilisten an einem Bahnhof, als ein russischer Truppentransporter hier kurz Halt machte. Als einer der Soldaten den kleinen Jungen mit dem weißen Pullover und Rucksack entdeckte, hechtete er vom Zug und wollte dem kleinen Pieschl gerade seine letzten Habseligkeiten entreißen, als der Bahnhofsvorsteher seine Trillerpfeife bediente und sich der Zug mit dem Soldaten an Bord wieder in Bewegung setzte. Danach hangelte sich die Familie stets am Waldrand entlang. Hier war sie sicher, denn die Russen begaben sich nur ungern unter das grüne Himmelszelt, da in den Wäldern noch geschossen wurde. Die Oma sei stets heldenhaft einen Schritt vorausgegangen, da die Gefahr bestand, auf eine Mine zu treten. Wenn die Russen sich näherten, dann bekam man das auch rechtzeitig mit, da sie stets lauthals sangen. Zurück in der Heimatstadt überstand man die Zeit der Belagerung, indem man Unterschlupf in einer Möbelhandlung fand. Pieschl war damals elf Jahre alt und entsinnt sich, wie die russischen Armeefahrzeuge an ihnen vorbeifuhren und trotzdem nichts gegen sie unternehmen konnten, da sich das Geschäft an einer belebten Straße befand und sie den Befehl hatten, zügig weiterzufahren. 1946, in dem Jahr der Lourdes-Erscheinung, musste die deutschstämmige Familie ihr Haus innerhalb von 20 Minuten räumen. „Meine Mutter hatte sich schon vorher ihren Pelzmantel in einen anderen Mantel eingenäht, den dann meine Oma vor den Soldaten aus dem Haus getragen hat”, so der emeritierte Weihbischof. Eine Madonna aus Gips durfte nicht mitgenommen werden, da es sich um Kulturgut gehandelt habe.

Im Westen angekommen, nannte man zunächst eine Turnhalle in Lauterbach mit sechsstufigen Betten sein Zuhause. „Es war eine gelöste Stimmung, der Druck schien von den Menschen abzufallen”, so Pieschl, dessen Familie alsbald wie die anderen auch, auf verschiedene Dörfer in der Umgebung verteilt wurde. Nur den katholischen Pfarrer wollte keiner haben. Er sollte aber bei einem Dorfbewohner unterkommen, der eine Synagoge in der Nachbarschaft angezündet hatte. Schon bald grüßte jeder den katholischen Pfarrer, der keinen Fahrradrücktritt kannte und stets beim Fahrradfahren im Graben landete. So weit die Schilderungen von Pieschl, der zum sechsten Vertriebenen-Bischof ernannt wurde, eine Funktion, die er bis 2009 ausübte. Was den emeritierten Weihbischof Pieschl bestürzt, ist, dass mit Kardinal August Hlond nun jemand selig gesprochen werden soll, der laut Pieschl eine wesentliche Rolle bei der Vertreibung der Deutschen in Tschechien gespielt habe.



X