Ein furioser Start für Bachs Orgel-Gesamtwerk

Oberursel (bg). Philipp Schreck hat sich viel vorgenommen. Der junge Mann wird jeden Ton des Orgelgesamtwerks von Johann Sebastian Bach erklingen lassen. Bei der unglaublichen Schaffenskraft Bachs sind das gut 18 Stunden Orgelmusik. Es wird gut zwei Jahre dauern, bis alle Stücke des Barockkomponisten aufgeführt sind. Geplant sind dazu einstündige Orgelvespern oder etwa 25-müntige Abendmusiken, die jeweils samstags um 17.30 Uhr, vor den üblichen Wochenschlussandachten gespielt werden.

Der junge Organist hat gerade sein Musikstudium abgeschlossen und packt diese anspruchsvolle Arbeit unerschrocken an, Herausforderungen stellt er sich gerne, sie spornen ihn an. In Oberursel hat er längst eine Fan-Gemeinde, die erst kürzlich begeistert seinem „Heiteren Orgelkonzert“ gelauscht hat. Eindrucksvoll hatte er dabei bewiesen, dass sich auf dem ehrwürdigen Kircheninstrument auch bekannte Film- und Musicalmelodien hervorragend spielen lassen.

Und nun erfolgte der Startschuss für ein ziemlich außergewöhnliches Projekt. Nach seiner Vollendung wäre die Christuskirche damit erst die dritte Kirche in der Landeskirche von Hessen und Nassau (EKHN), in der diese Bach-Gesamtreihe komplett aufgeführt wird. Unter dem Motto „Orgelpunkt 2020“ war zur ersten Orgelvesper eingeladen worden. Der Andrang war groß, leider konnten wegen der Cororna-Auflagen nur 200 Besucher das Konzert miterleben. „An Bach kommt man in der Musik einfach nicht vorbei, erst recht nicht in der Kirchenmusik“, stellte Gunilla Pfeiffer bei der Begrüßung der zahlreich erschienen Musikfreunde fest und erklärte den Begriff „Vesper“. Das Wort bezeichnet das christliche Abendgebet und verdeutlicht die enge Bindung der Bach’schen Musik zur Kirche und zum christlichen Glauben. Alle seine Kompositionen pflegte Bach mit „Soli Deo Gloria“ zu unterzeichnen: „Allein Gott zur Ehre“.

Die Kantorin der Christuskirche, die den erkrankten Hausherrn, Pfarrer Reiner Göpfert, vertrat, bat vor dem Konzert um Spenden für die Orgel. Die Gemeinde habe eine Großbaustelle, berichtete sie. Die neobarocke Orgel, die von der Firma Hillebrand 1966 eingebaut wurde, bedarf einer dringenden Renovierung. Alle 15 bis 20 Jahre steht eine große Ausreinigung, das heißt, die ganze Orgel muss dabei komplett „ausgeräumt“ und alles, auch jedes kleinste Teil, von Staub und Schmutz gereinigt werden. „Wir stehen noch am Anfang des Projekts“, unterstrich Gunilla Pfeiffer, „wir holen gerade die ersten fachlichen Gutachten ein“. Es stand eine Ausreinigung an, und dabei wurden einige altersbedingte Mängel festgestellt, die grundlegende und damit leider teure Maßnahmen erforderlich machen. Die Summe kann bis in einen sechsstelligen Bereich vordringen“, befürchtet sie. Dennoch wünschte sie einen genussreichen, musikalischen Abend mit dem fünften Evangelisten – als solcher wird Bach gerne bezeichnet.

An der Orgel war Philipp Schreck ganz in seinem Element. Voller Freude zog er eine Stunde lang alle Register und bediente Manual und Pedal; mit hohem Einsatz und Hingabe gleichermaßen. Die enorme Vielseitigkeit von Bach leuchtete in dieser ersten Orgelvesper besonders auf. Als erstes spielte Schreck die berühmte Toccata in d-Moll, BWV 565, die für viele Besucher vertraut klang. Für das Konzert hatte der junge Organist ein aufregendes Programm zusammengestellt. Zwischen den einzelnen Stücken gab er Erläuterungen und erzählte, wann und aus welchem Anlass das Werk komponiert wurde. Die unglaubliche Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Bach’schen Orgelkompositionen bewältigte er präzise und bravourös. Das Präludium mit Fuge in C, BWV 531, entstand während Bachs Studienzeit. Es ist das erste, das er in C-Dur geschrieben hat. Auf die Canzona mit einem völlig anderen Charakter folgte das beschwingte Tanzstück Allabreve in d. Nach der etwas kitschigen Pastorale in F – so seine Worte – folgte ein Werk, das man Bach kaum zuschreiben möchte. Ganz modern kommt es daher mit schrägen Dissonanzen, das kleine harmonische Labyrinth, BWV 591.

Als Sahnehäubchen zum Schluss servierte Schreck zur Freude der Besucherschar das heiter, bewegte „Concerto in G“, BWV 52, in drei Sätzen. Ursprünglich komponiert von dem Weimarer Prinzen Johann Ernst, der es für ein Streichorchester geschrieben hatte, setzte Bach es für Orgel und Cemballo um, erläuterte Philipp Schreck.

Die Besucher bedankten sich für den wunderbaren, hochinteressanten Einstieg in den Bach’schen Orgelkosmos mit langem und stürmischem Applaus.



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