Angelika Rieber: „Ich habe nicht vor, zu verschwinden“

Das Mahnmal und die Geschichten dazu sind ebenso untrennbar wie die die Stolperstein-Organisation und die Lebensläufe der Menschen mit Angelika Rieber verbunden. Foto: js

Hochtaunus (js). Heute Abend wird sie sich verabschieden, aber sie wird bleiben. Angelika Rieber ist keine, die einfach geht. Dafür gibt es noch viel zu viel zu tun. Am Sonntag wird sie schon wieder in eigener Mission unterwegs sein. Wird Menschen durch die Stadt führen, „Auf den Spuren jüdischen Lebens“, wie so oft in all den Jahren, seit sie die Tour anbietet. Treffpunkt um 14.30 Uhr am St.-Ursula-Brunnen am Marktplatz, in Sichtweite des Feinberg-Hauses. Allein zu dieser Familie des Abraham Feinberg, des letzten Vorstehers der Jüdischen Gemeinde bis zur Verfolgung und Vernichtung durch den Nationalsozialismus, könnte Angelika Rieber über Stunden erzählen. In vielen Büchern, Schriften und unzähligen Beiträgen in unterschiedlichen Publikationen hat sie es getan. Die ehemalige Gymnasiallehrerin im „Vollzeit-Unruhestand“ ist in Oberursel und weit darüber hinaus das Gesicht derer, die nicht ruhen in der Aufarbeitung der Vergangenheit jüdischen Lebens. Für die stete „Erinnerungsarbeit“ eine Lebensaufgabe ist.

Die kurze Notiz zum Abschied hat Angelika Rieber bereits vor zwei Jahren annonciert. Da hat sie sich letztmals zur Vorsitzenden der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) Hochtaunus wählen lassen. Seit 2016 ist sie im Amt, dem Vorstand gehört sie seit 2001 an. Sie war 70 geworden damals, musste sich entscheiden mit vorausschauendem Blick auf die „Restlaufzeit“ ihres Lebens. „Was will, was muss ich noch tun?“ Es ist eine ziemlich lange Liste von selbstgestellten Aufgaben geworden. „Ich habe nicht vor, zu verschwinden“, so Rieber.

Verabschieden wird sie sich nur vom alltäglichen Organisationsgeschäft, den GCJZ-Vorsitz abgeben, eine Nachfolgerin steht bereit, wird heute gewählt. Einen Rückzug aus der „Erinnerungsarbeit“ bedeute das nicht, wohl aber die Abgabe administrativer Arbeiten: Bundesweite Tagungen, das Verfassen von zahlreichen Rundbriefen, Programmplanung, die Organisation von Veranstaltungen, Pressemitteilungen versenden. All das, was viel Zeit braucht, wird sie anderen überlassen, weil sie viel Zeit braucht für das, was noch zu tun ist.

„Haltet mich in guten Gedenken.“ Bertha Röder hat diesen Satz in einem Abschiedsbrief an ihre Kinder geschrieben. Sie war 55 Jahre alt, als sie 1943 im Konzentrationslager Auschwitz starb. Ihr Name steht ganz oben auf der Liste der Oberurseler Opfer des Nationalsozialismus, eingebrannt ins Glas am Denkmal hinter der Hospitalkirche. Wie so viele Namen, die auf ihren folgen. Namen und Geschichten, die zu „Wachsamkeit auffordern und zur würdevollen Erinnerung“, so nennt es die Historikerin Angelika Rieber, mit deren Forschungsarbeit zu den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus das Graben in der Vergangenheit anfing. Das Mahnmal gibt den Opfern einen Namen.

Bertha Röder und ihr Zitat wurde zum stillen Aufruf, dem sich Rieber, Annette Andernacht von der Initiative Opferdenkmal und viele andere stellten. „Haltet mich in guten Gedenken“ wurde zum Titel eines Buches über die Forschungsergebnisse und bestimmte die unermüdlichen Anstrengungen derer, die das Mahnmal in der Altstadt verwirklichten. Es werden noch mehr Namen dazukommen. „Das Denkmal ist fertig, die Forschung noch lange nicht“, so Rieber.

Es gibt unzählige Veröffentlichungen von Angelika Rieber zu diesem Thema. Sie hier alle zu nennen, würde den Rahmen sprengen. Aus dieser Arbeit wird sie sich nicht zurückziehen, da kann es keinen Rücktritt geben. Aber sie braucht den Freiraum, um die „halbfertigen Dinge“ in ihrer Forschung zu Ende zu bringen. Und „mehr Zeit für mich“, für Sport, Wandern, Freunde, Familie. Daniel Neumann, der Direktor des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Hessen, hat Angelika Rieber bei der Vorstellung eines Buches zur Geschichte des Jüdischen Friedhofs in Oberursel als „Stachel im Fleisch“ bezeichnet. Sie sei im positiven Sinne eine „Nervensäge“, die mit ihrer Arbeit Andenken bewahre, Erinnerung für Familienangehörige ermögliche, Forschern Spuren biete. Eine Frau, die sich zur Aufgabe gemacht habe, „Geschichte dem Vergessen zu entreißen“, hatte der damalige Bürgermeister Hans-Georg Brum ergänzt.

Angelika Rieber hat früh damit begonnen. Aufgewachsen im Kronberg der 60er-Jahre, an paradiesische Bilder mit Blick auf den Altkönig und blühende Obstwiesen erinnert sie sich. Klar, sie hat das Tagebuch der Anne Frank gelesen, ist groß geworden in einer Zeit, in der „das Thema“ im Raum war. Auschwitz war kein verbotenes Wort in der Familie, im Studium der Geschichte, Politik und Pädagogik in Frankfurt wurde sie weiter sensibilisiert, mit den Lehrerkollegen wollte sie „lebendigen Geschichtsunterricht“ machen. „Wir machen mal was mit Zeitzeugen“, das war die Idee. Daraus sind zahlreiche Projekte entstanden, meist ging es um Begegnungen mit jenen Zeitzeugen, um die Erinnerung an das Unsagbare wachzuhalten. Noch heute pflegt sie viele Kontakte mit Schulen, ist Vermittlerin von Begegnungen und häufig selbst dabei. Auch beim Stolpersteine-Projekt mit dem Künstler Gunter Demnig, in dem sich vor allem die Feldbergschule engagiert.

So haben sich die Dinge immer weiter entwickelt. Rieber engagiert sich beim DGB in einer „Arbeitsgruppe gegen Rechts“, Ende der 70er-Jahre initiiert sie mit anderen jungen Lehrern das noch immer aktuelle Projekt „Jüdisches Leben in Frankfurt“, wird Vorsitzende des gleichnamigen Vereins. „Wir waren die Schmuddelkinder“, sagt sie heute. Etwa mit der Arbeitsgemeinschaft „Nie wieder 1933“, 1982 gegründet, 40 Jahre nach der Wannsee-Konferenz. 2003 entstand die „Initiative Opferdenkmal“, das lief parallel.

Seit 1990 forscht und publiziert Angelika Rieber im Hochtaunuskreis, lebt in Oberursel. Immer wieder geht es um Lebenswege von Menschen jüdischer Herkunft, die entweder konvertiert waren oder in sogenannter Mischehe lebten. „Meine Forschung will ich noch zu Ende bringen“, sagt sie. „Christen jüdischer Herkunft im Hochtaunuskreis“ ist so ein Forschungsgebiet. In den bisherigen Publikationen dazu geht es um Menschen aus Oberursel, Bad Homburg und Königstein, das würde sie gerne noch erweitern, auch die anderen Kommunen einbeziehen.

Und da ist das noch offene Projekt zentrale Netzwerkstelle, das sie vor zwei Jahren angestoßen hat. Ein Dokumentationszentrum für alle hessischen Initiativen zum Erhalt der umfangreichen Materialien. Das läuft bisher nur schleppend. „Da fehlt die Lobby“, klagt Angelika Rieber, das Land müsse „als Player mit drin sein“. Und eine rechte Nervensäge im Hintergrund die Fäden ziehen. Frau Rieber hat nicht vor, zu verschwinden.



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