Lesermeinung

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Unser Leser Günter Pabst aus Schwalbach meint zur Corona-Pandemie:

Parallel zu den alltäglichen Nachrichten über die Entwicklung des Corona-Virus, über das Krisenmanagement, über die statistischen Zahlen sollte darüber nachgedacht werden, was derzeit in der Gesellschaft und mit uns passiert und die Gedanken sollten auch auf die Zukunft gerichtet sein.

Die polnische Literaturnobelpreisträgerin, Olga Tokarczuk, hat in einem lesenswerten Beitrag in der FAZ vom 30. März gefragt, ob wir jetzt „zum normalen Lebensrhythmus zurückgekehrt sind“. „Dass nicht das Virus die Norm verletzt, sondern umgekehrt: dass jene hektische Welt vor dem Virus nicht normal war? Und Sie stellt fest, „die Schlacht um eine neue Wirklichkeit wird bald beginnen“.

Wir haben Zeit gewonnen, die Luft ist sauberer geworden, der Autoverkehr weniger. Andererseits stellt die Schließung der Kindergärten und Schulen Kinder, Väter und Mütter vor enorme Herausforderungen, ebenso das gesamte Gesundheitswesen. Die im Gesundheits- und Sozialbereich Tätigen (systemrelevante Berufe) erfahren auf einmal eine soziale Anerkennung, auch von der Politik, die ihnen bisher vorenthalten wurde, sowohl sozial als auch finanziell. Es darf aber nicht bei den „schöne Worten“ und einem einmaligen finanziellen Pauschbetrag bleiben. In Zeiten der Corona-Krise entwickelt sich eine enorme Hilfsbereitschaft und der Versuch, auch mit Distanz Gemeinschaft zu leben. Die Zivilgesellschaft lebt in vielen kreativen Facetten.

Was bedeutet dies für die Zeit nach Corona? Prof. Sighard Neckel, der 2017 den Neujahrsvortrag in Schwalbach hielt, spricht im FR-Beitrag vom 25. März von der Notwendigkeit eines „Infrastruktursozialismus“. Der neoliberale Kapitalismus hat abgewirtschaftet, er kann die weltweiten Probleme nicht mehr lösen. Alles dem Marktgedanken unterzuordnen ist ein Teil des Problems geworden.

Vor 40 Jahren habe ich in einer Eltern-und Erzieher-Initiative Rhein-Main mitgearbeitet und wir waren einsame Rufer nach einer besseren Ausbildung und Bezahlung der Fachkräfte in den Kindergärten und Kinderhorten. 1981 habe ich die Zeitschrift „Widersprüche – Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich“ mitbegründet und wir waren die erste Gruppe, die ein „garantiertes Mindesteinkommen“ forderte. Auch um die Stigmatisierung der Sozialhilfeempfänger aufzuheben. Es hat lange gedauert, bis diese Diskussionen in der Politik angekommen sind. Heute ist nun die Gelegenheit, endlich den Notwendigkeiten Rechnung zu tragen.

Nach Corona ist die Zeit reif, neue Wege zu gehen, nicht mehr der Rettung der Banken und der Großkonzerne oberste Priorität einzuräumen. Wir brauchen ein neues ökonomisches Denken, das sich für sozialere Strukturen einsetzt und Wege findet, auch dem Klimawandel gerecht zu werden und um zukunftssichere Lösung zu finden. Das kreative Potential ist in unserer Gesellschaft vorhanden, nicht nur die Gewerkschaften sind aufgerufen, aktiv zu werden. Packen wir es gemeinsam an. Gemeinsam heißt, ohne Gruppen und Minderheiten auszugrenzen. Für eine solidarische Gesellschaft, für eine solidarische Welt.



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