Ohne Arzttasche vor den Bergen des Taunus

Bad Homburg (agl). Eine Viertelstunde nach Beginn der Lesung startet die Wiederholung der x-ten Staffel des „Bergdoktors“ im Fernsehen. Es ist Donnerstagabend. Der Abend in der Woche, an dem Anrufe nicht angenommen und Verabredungen kategorisch ausgeschlossen werden. Denn wenn Hans Sigl mit dem Medizinkoffer unterwegs ist vorm Bergpanorama, geht für viele nichts darüber. Heute sind Ausnahmen möglich. Die Fans freut’s. Denn heute ist der beliebte Schauspieler höchstpersönlich ganz nah und live.

Mit einem Buch unterm Arm betritt er anlässlich des Poesie- und Literaturfestivals im Güterbahnhof die Bühne. Er hat eine Geschichte von Stefan Zweig mitgebracht. Tosender Applaus als Hans Sigl den überwiegend weiblich besetzten Saal betritt. Dezent in Schwarz gekleidet, lugen lediglich seine feuerroten Socken hervor. Hans Sigl ist so perfekt auf seinen Text vorbereitet, er versteht ihn so sagenhaft gut vorzutragen, dass selbst die letzte Zweiflerin im Saal, ob des Fankults um den Herrn Doktor, mit den ersten Sätzen, die von der Bühne ausgehen, überzeugt ist davon, dass dieser Abend sich lohnt. Der Abstand zwischen Bühne und den schier endlos lang in den Saal hineinreichenden Sitzreihen ist eigentlich zu groß für ein intimes Get-together. Dennoch füllt die Stimme und die Präsenz Sigls den Raum komplett aus.

Der Stefan-Zweig-Text scheint zu Hans Sigl aber auch zu passen wie das Alpenglühen auf die Fototapete, und er scheint dem Schauspieler auch gut zu liegen. Der Text handelt von einer verheirateten Frau, deren Ehealltag ein wenig eintönig geworden ist. Die Anziehungskraft zwischen ihr und ihrem Mann scheint erloschen. Dargestellt wird ein typisches Frauenleben des Fin de Siècle gehobener gesellschaftlicher Kreise. Die Frau mittleren Alters – eine der typischen Stefan Zweig-Figuren – hat zwei kleine Kinder und viel Zeit für sich selbst. Das Leben kreist um ihr Liebesleben, das quasi brachliegt, bis ein junger Mann in ihren Blick gerät und ihr Gefühlsleben gründlich aufgewirbelt wird.

Einer Zeugin des Eheverrats gelingt es, die Frau durch erpresserische Forderungen in große seelische Nöte zu bringen. So sehr zwischen Gefühl und Moral hin- und hergerissen, denkt sie bereits über Selbstmord nach. In bekannter und gekonnter Manier schafft es der Autor, die Leser tief in das Seelenleben und die Qualen seiner Protagonistin blicken zu lassen. Hans Sigl wiederum trägt diese Geschichte ganz ohne dick aufzutragen vor. Dafür aber mit viel Feingefühl und Verständnis für das, was Stefan Zweigs Figur so sehr mitnimmt. Ganz passend begleitet wird er vom „Gipsy Jazz Quartett“ und Sandro Roy an der Violine. „Angst“, so der Titel der Zweig’schen Erzählung, offenbart beklemmende Gefühle und Unglück. Und die musikalische Darbietung versteht es gleich einem roten Faden, fantastisch und auf hohem künstlerischen Niveau Stimmungen aufzugreifen und die Zuhörer fortzutragen in eine andere Welt. Es ist zwar nicht die idyllische Welt Ellmaus am wilden Kaiser, aber tragisch und dramatisch geht es allemal zu und am Ende doch gut aus an diesem Abend mit Hans Sigl.

Begleitet wird Hans Sigl bei seiner Lesung aus Stefan Zweigs Geschichte vom „Gipsy Jazz Quartett“ und Sandro Roy an der Violine. Foto: agl



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