Der Schmerz der Einsamkeit in all seinen Schattierungen

Einsamkeit ist Schmerz und entzieht sich jeder Traurigkeits-Kategorie – und wer einem Einsamen eine Hand reicht, wächst selbst durch Nähe: Beeindruckend ist die Lesung mit Bärbel Schäfer, zu der der Bad Homburger Hospiz-Dienst in die Englische Kirche eingeladen hatte. Foto: a.ber

Bad Homburg (a.ber). „Ein Fenster öffnet sich. Ein Schlüsselbund mit rotem Herzanhänger fliegt vor meine Füße.“ Die E-Mails, die Bärbel Schäfer von Ava, der Schwester ihrer Freundin, bekommt, sind winzige Schmerzfenster. Einblicke in eine verwundete, einsame Seele. Deshalb steht sie eines Tages leibhaftig vor dem Haus, klingelt bei Ava. Die wirft ihren Haustürschlüssel herunter. „Ich wollte Avas Einsamkeits-Planeten betreten.“ Die Lesung aus ihrem Buch „Avas Geheimnis. Meine Begegnung mit der Einsamkeit“, zu der der Bad Homburger Hospiz-Dienst die bekannte Moderatorin und Journalistin Bärbel Schäfer in die Englische Kirche eingeladen hatte, hatte eine klare Botschaft: Der Einsamkeit, ein in unserer Gesellschaft weit verbreiteter Schmerz, können wir entgegentreten – wenn das „Ich bin da!“ dem entgegenkommt, der innerlich verkrochen hinter Schutzmauern sitzt.

Während der ersten beiden Covid-Lockdowns nahm Bärbel Schäfer als Probandin an der Einsamkeits-Studie der Ruhr-Universität Bochum teil. Doch Einsamkeit begegnete der seit den 1990er-Jahren an heikle Themen gewöhnten Talk-Showmasterin, die bis heute in Hörfunk, Podcasts und Fernsehen ihre Gäste und Zuhörer zum Nachdenken herausfordert, auch auf einer ganz anderen Ebene sehr persönlich: Die Schwester einer Freundin, im Buch „Ava“ genannt, erleidet mit Anfang 30 einen schweren Unfall; Bärbel Schäfer erlebt die junge, bisher lebenszugewandte Lehrerin im Krankenhaus als verlorenen Menschen mit hoffnungsloser Trauer und tiefer, ausgrenzender Traurigkeit, die in einem kompletten Rückzug der jungen Frau endet. „Alles, was ich glaubte über Einsamkeit zu wissen, veränderte sich, als ich Ava begegnete. Diese Begegnung hat mich verstört und auch mit meinen eigenen Verletzungen konfrontiert. Und doch war ich sicher: Ich will nicht einfach wegschauen. Einsamkeit geht uns alle an.“

Bei der Lesung in Bad Homburg vor vollbesetztem Saal gelang es der Autorin, in gut ausgesuchten Passagen die Zuhörer mit hineinzunehmen: in eigenes Nachdenken angesichts der minutiösen E-Mail-Schilderungen von Ava über deren Alltag der Zurückgezogenheit; in die Schilderung intensiver Begegnungen mit ihr – und in immer wieder eingefügte tiefe Reflexionen Bärbel Schäfers über ihre eigene Vergangenheit.

Einsamkeit – ein Tabu-Thema? Meist falle es uns leichter, über Tiefschläge wie Scheidung, Arbeitslosigkeit oder eine Fehlgeburt mit anderen zu reden, so Bärbel Schäfer. Aber wer einsam ist, habe häufig das Gefühl, beschädigt zu sein und distanziere sich in Selbstzweifeln immer mehr von seiner Umwelt und den Menschen. „Ich treffe nur auf mich“, schreibt Ava in einer E-Mail. „Was wäre, wenn das Leben mir leichter fiele, wenn ich mehr Selbstliebe in mir trüge? Wo ist mein Urvertrauen-Sprungtuch, in das ich mich fallen lassen kann?“ In sehr ernsten wie in humorvollen Darlegungen, ja mitunter literarischen Satire-Kabinettstückchen, ließ Bärbel Schäfer in der Englischen Kirche lebhaft den Schmerz der Einsamkeit in allen Schattierungen zu Wort kommen wie auch den inneren Kampf, eigene „Schmerz-Orte“ aufzusuchen und ungelebtes Leben in gelingendes Leben zu verwandeln. Von Schuld, Vergebung und Liebe ist in dem Buch „Avas Geheimnis“ sehr eindrücklich die Rede.

Bärbel Schäfer gab einen Einblick in die jüngste Forschung über Einsamkeit. Immer mehr Menschen in unserem Land leben allein, ohne Familienverbund. Unter Einsamkeit leiden nicht nur alte Menschen, sondern zunehmend auch Jüngere. Die digitalisierte „Vernetztheit“ hilft da nicht weiter. Das Verkümmern leibhaftiger sozialer Kontakte schwächt den Körper, und die gesundheitlichen Auswirkungen sind mittlerweile ein erheblicher Kostenfaktor unseres Gesundheitssystems. Einsamkeit löst nach einer Studie der Universität Chicago „extreme Wachsamkeit für soziale Bedrohung aus: Der Einsame beginnt oft, Äußerungen anderer als feindselig und spöttisch wahrzunehmen und zieht sich weiter zurück.“ England habe mittlerweile ein Ministerium gegen Einsamkeit, in den Niederlanden gebe es sogenannte „Plauderkassen“ im Supermarkt, an denen Menschen sich Zeit für Austausch nehmen. Auch in Hessen gebe es, so Schäfer, viele Aktionen gegen Einsamkeit. „Und es geht nicht um die schiere Anzahl von Kontakten, die ein Mensch hat, sondern die Intensivierung eines Kontakts ist entscheidend. Austausch stärkt uns und senkt das Stresshormon Cortisol.“

Die Autorin schildert: „Wir beide, Ava und ich, haben nicht aufgegeben.“ Das Aufsuchen Einsamer, das „Ich bin da!“ sei entscheidend. Auslöser für das Minimieren von Kontakt könnten Enttäuschungen, Arbeitslosigkeit, ein Umzug sein. „Überlegen Sie mal, wer mal einen Anruf braucht. Und bei einer ersten Ablehnung: einfach dranbleiben!“, sagte die Autorin. Die echte Ava, die Schwester ihrer Freundin, hat schließlich ihr „blindes Herzfenster wieder aufgemacht“.

Ursula Kopp-Salow vom Vorstand des Bad Homburger Hospiz-Dienstes dankte Bärbel Schäfer für „die berührende Beschreibung von Gefühlen und Gedanken zum Umgang mit Lebensnarben und die Ermutigung, wie wichtig wir für andere Menschen sein können“.

Das Buch „Avas Geheimnis. Meine Begegnung mit der Einsamkeit“ von Bärbel Schäfer ist im Kösel-Verlag erschienen und im örtlichen Buchhandel erhältlich.



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