„Wenn ich rede, bin ich glücklich“: Eugen-Kogon-Preis 2018 an Alfred Grosser

Alfred Grosser, der dieses Jahr den Eugen-Kogon-Preis erhält, trägt sich in das Goldene Buch der Stadt Königstein ein, links Bürgermeister Leonhard Helm und rechts Stadtverordnetenvorsteher und Kuratoriumsvorsitzender Alexander von Bethmann. Fotos: Sura

Königstein (aks) – Alfred Grosser redet gern und hat aufgrund seiner bewegten Vergangenheit auch viel zu sagen: „Wenn ich rede, bin ich glücklich“, tut er bei der Pressekonferenz im Haus der Begegnung vor der Preisverleihung kund – sein Deutsch ist ebenso perfekt wie sein Französisch.

Der 93-jährige Autor, Publizist und Politikwissenschaftler wirkt völlig gegenwartsklar und alles andere als erschöpft nach seinem Auftritt als Gast des Forschungskollegs Humanwissenschaften der Goethe Universität in Bad Homburg am Tag zuvor. Der Autor von „Le Mensch“ plaudert mit leiser Stimme und blitzenden Augen, davon dass er immer noch täglich für die Aachener Zeitung schreibe und viel lese: Mehrere deutsche und französische Tageszeitungen wie die Allgemeine Frankfurter Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, der Spiegel, Ouest-France, Le Monde – da kann er sich den Kommentar nicht verkneifen, dass „die heuchlerisch gegen Macron agierten“ – La Croix, Le Canard enchainé, Libération.

Bei Charlie Hebdo runzelt er die Stirn, die Karikaturen finde er schlicht nicht lustig: „Es gibt Dinge, die unwürdig sind, aber nicht verboten werden können“.

Grosser bewundert Merkels Mut

Er kommt gleich zur Sache und bekennt sich als glühender Anhänger Angela Merkels, die eine Politik der Ethik betreibe, auch wenn sie damit nicht mehr die breite Zustimmung erhalte. „Das ist das Risiko, das man nimmt“. Dieser Mut sei etwas, was er persönlich bei vielen Volksvertretern vermisse.

Von Merkel und Macron gemeinsam erhofft Grosser sich Antworten für ein einiges Europa, das zwar gerade für junge Menschen eine Selbstverständlichkeit sei, aber ohne das es weder Frieden noch Wohlstand geben könne. Vielleicht gebe es beim Brexit sogar doch noch ein Einsehen der Engländer? Die Welt sei voller humanitärer Katastrophen und dennoch würden Kriegsschauplätze mit Waffen aus Deutschland und Frankreich, gleich hinter USA und Russland, befeuert. Es sei paradox: „Wir schicken die Waffen, um sie nicht zu nützen?“, quasi als Abschreckung.

Grosser, der sich selbst als „Atheist, der dem Christentum nahe steht“, bezeichnet, streift in seinem Redefluss auch den Dialog der Religionen, „der ist in Frankreich vielfältiger“, die Trennung von Staat und Kirche, „da sind die Deutschen nicht konsequent mit ihrer Kirchensteuer“, und als Publizist und Journalist spricht er der Meinungsfreiheit und freien Presse das Wort. „Eine Steuer für die Zeitung wäre besser“, schließlich seien die Journalisten die Zukunft der Menschheit schlechthin – sagt’s und lächelt verschmitzt.

Sein Prolog mit den Journalisten endet mit einer Anekdote zu den Anfängen seiner langen Freundschaft mit Eugen Kogon, für den er mit 25 Jahren die Schrift „L’Allemagne d’aujourd’hui“ ins Französische übersetzt hatte. „Viel zu lange Sätze“, gesteht er augenzwinkernd, und „die hat er auch noch vorgelesen“.

Viele Ehrengäste sind alte Bekannte

Den Festakt im Haus der Begegnung eröffnete Stadtverordnetenvorsteher und Vorsitzender des Kuratoriums „Eugen Kogon-Preis“ Alexander von Bethmann und kündigte den Publizisten Prof. Dr. Dr. hc mult. Alfred Grosser als Menschen an, dessen Leidenschaft das „Unterrichten von Menschen sei, mit dem Nebenberuf Journalist.“ Dr. Michael Kogon und Beate Kogon Aboulgheit, Sohn und Enkeltocher Eugen Kogons waren die Laudatoren des Abends.

Als weitere Ehrengäste begrüßte von Bethmann Weihbischof Gerhard Pieschl aus Limburg, der Eugen Kogon noch als Kirchgänger in Königstein kannte, ebenso wie Jürgen Banzer und Elke Barth, Landtagsabgeordnete des Hochtaunuskreises, und Landrat Ulrich Krebs, die Stadtverordnetenvorsteher von Bad Homburg (Dr. Alfred Etzrodt), von Steinbach, Eschborn und Kronberg (Andreas Knoche) sowie Hildegard Klär von der Europa Union. Sein besonderer Dank galt Jan Schumacher vom Collegium Musicum der Goethe Universität für die musikalische Begleitung dieser Feierstunde mit Kompositionen von Massenet, Klein und Haydn.

Grosser selbst habe 2002 die Laudatio für den ersten Eugen-Kogon-Preisträger – den früheren polnische Außenminister Władysław Bartoszewski – gehalten, in der Grosser für die Aufnahme der EU-Osterweiterung plädierte.

Die „eigentlichen Schöpfer von Europa“

Dr. Michael Kogon ergriff als Laudator das Wort, und sagte, wie liebend gern er eine Laudatio für seinen Vater Eugen Kogon halte, der am 24. Dezember 1987 mit 84 Jahren in Königstein verstorben ist. Kogon und Grosser waren Freunde, trotz des Altersunterschieds von 22 Jahren, und in Vielem ähnlich. „Beide besaßen eine moralische Grundausstattung, die sich für Humanität und Demokratie einsetzte“. Ihr Engagement für eine Verständigung, speziell der beiden Länder Frankreich und Deutschland, aber auch weltweit, einte sie. Grosser zählte Eugen Kogon zusammen mit Henri Frenay und Altiero Spinelli zu den drei eigentlichen „Schöpfern von Europa“.

Eugen Kogon, der linkskatholische Gegner des Nationalsozialismus, der das Grauen des Konzentrationslagers Buchenwald sechs Jahre selbst erlitt, gilt als einer der intellektuellen Väter der Bundesrepublik Deutschland und der europäischen Integration in Deutschland. Von ihm stammt der Satz eines Unbestechlichen: „Nichts als die Wahrheit kann uns frei machen“. Sein Buch „Der SS-Staat“ von 1946 und das Tagebuch der Anne Frank (1950) waren nach dem Zweiten Weltkrieg die meistverkauften Bücher. Es stimme also nicht, dass die Deutschen von den Greueltaten des Holocaust nichts wussten und nichts wissen wollten.

Freunde seit 1948

Die Freunde lernten sich 1948 an der Sorbonne in Paris kennen, als der junge Grosser eine Lesung Eugen Kogons ins Französische übersetzte und an den langen Sätzen verzweifelte. Schon bald verband die beiden – der eine Hochschulprofessor an der TH Darmstadt und Mitherausgeber der „Frankfurter Hefte“ (ab 1946 mit Walter Dirks), der andere Hochschulprofessor in Paris und Publizist – die Europäische Idee, die ab 1948 mit Kogon als Präsident der Europa-Union immer realistischer wurde. In den Briefen, die die Enkeltocher, Beate Kogon Aboulgheit, mit ausdrucksstarker Intonation vorlas, wurde die gegenseitige Vorfreude auf ein gemeinsames „Debattieren“ deutlich. Es ging um reine Streitlust der beiden Denker, aber vor allem darum, aus der Defensive in die Offensive zu kommen: “Abseits gibt es kein Glück“.

Auszeichnungen erhielten Eugen Kogon und Alfred Grosser viele in ihrem langen Leben, erwähnenswert sei die Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen, und der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den 1975 nur Alfred Grosser erhielt. Für sein Lebenswerk wurde Grosser mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern geehrt.

Die Laudatoren mahnten in ihrem Abschlussplädoyer, dass es nicht „das Privileg“ Alfred Grossers sein darf, kritisch zu sein. Alle Publikationen sollten die Wahrheit aussprechen, „auch wenn sie weh tut“. Die Freunde Kogon und Grosser schätzten sich als glückliche Menschen, schließlich hatten sie den Krieg und den Holocaust überlebt und schlussfolgerten: „Daraus erwächst unsere Verantwortung!“. Sie lebten und handelten nach dieser Verantwortung.

Visionäre für ein freies Europa

Auf diese bewegenden Worte folgte der Eintrag des zwölften Eugen-Kogon-Preisträgers ins Goldene Buch der Stadt Königstein. Noch während Bürgermeister Helm die Urkunde verlas, winkte Grosser neben ihm auf der Bühne schon fast ungeduldig ab. Leonhard Helm hatte im Vorhinein betont, es sei ihm und dem Kuratorium ein Anliegen für diesen Preis Intellektuelle mit „Ecken und Kanten“ zu finden: „Die Demokratie braucht Vorbilder, an denen man sich reiben kann“.

Alfred Grosser, der kluge Kämpfer, der sich Zeit seines Lebens für Verständigung und Frieden und gegen Vorurteile eingesetzt hat, will selbst nicht im Mittelpunkt stehen. Augenzwinkernd gibt er zu, dass ihm das peinlich sei, dass ihn seine vier Söhne dann belächelten: „Tu as les chevilles qui enflent“ (frei übersetzt: Du platzt ja gleich vor Stolz). Grosser braucht kein Manuskript, plaudert frei von der Leber weg von den vielen geistreichen Begegnungen mit Visionären, die gemeinsam mit ihm für ein vereintes Europa kämpften. Dies verhalf der jungen BRD zu einem neuen Selbstbewusstsein, nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Nazi-Schreckensherrschaft. „Es gab ein Zusammenarbeitsproblem und nicht ein Schuldproblem“.

Das Haus der Begegnung schrieb mit dem 16. März Geschichte. Mitten in Königstein durfte man einen Veteranen des entschlossenen Kampfes für Europa und besonders für die deutsch-französische Freundschaft erleben. Gemeinsam mit Sohn und Enkeltochter Eugen Kogons erteilten sie eine Lektion in Sachen Humanismus als Grundlage für ein vielfältiges und friedliches Europa.

„Penser juste, donc à la fois avec justesse et avec justice - Richtig denken heißt, mit Richtigkeit und mit Gerechtigkeit denken. Das klingt zwar im Deutschen nicht so gut, sagt aber doch das Wesentliche“ (Alfred Grosser).

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