Anschauliches Schülertraining: „Raus aus dem toten Winkel!“

„Siehst Du, so weit musstest Du dich vom Lkw entfernen, damit der Fahrer dich überhaupt sehen kann!“ In diesem Fall steht die Viertklässlerin sogar noch hinter dem gekennzeichneten Bereich. Fotos: S. Puck

Königstein (pu) – Letzten Freitagvormittag hatten die Dritt- und Viertklässler der Grundschule Königstein einen Unterrichtstag, der allen hoffentlich noch lange in Erinnerung bleiben wird. Schon das mitten auf dem Pausenhof stehende Unterrichtsmaterial durfte man mit Fug und Recht als ungewöhnlich bezeichnen: Groß, vorwiegend grün, mehrrädrig mit einem Gewicht von 26 Tonnen – es handelte sich um einen imposanten Brummi. Entsprechend aufgeregt und aufgedreht nahmen die Kinder das Gefährt in Augenschein.

Den Lastkraftwagen (Lkw) samt seinem Fahrer Alexander Mitter hatte Joachim Schulte, Chef des Kronberger Traditionsunternehmens Schulte Bauzentrum Rhein-Main GmbH, bereitwillig mehrere Stunden für ein Vorzeigeprojekt entbehrt – die Aktion „Raus aus dem toten Winkel!“

Dahinter verbirgt sich eine Initiative der aus dem Geist des englischen Clublebens entstandenen internationalen Verbindung junger Männer „Round Table“ (RT) mit den Zielen, Dienst („service“) an der Allgemeinheit, Austausch von beruflichen und privaten Erfahrungen der Mitglieder sowie Pflege neuer Freundschaften im In- und Ausland. In Deutschland sind rund 3.500 Mitglieder aktiv.

Tragischer Vorfall Auslöser

Im konkreten Fall waren es Mitglieder des Ammerländer Round Table 103, die, einen tödlichen Unfall eines sechsjährigen Bremer Jungen vor Augen, der von einem rechtsabbiegenden Lkw überrollt worden war, nach Wegen zur besseren Sensibilisierung der Bevölkerung suchten und im September 2006 das Schulprojekt „Raus aus dem toten Winkel“ aus der Taufe hoben. Das Ganze zog Kreise, sodass es Round Table Deutschland 2008/2009 schließlich zum Nationalen Serviceprojekt wählte.

Die Idee dahinter: Verstärkte Aufklärung und Veranschaulichung lauernder Gefahren im Straßenverkehr soll nicht nur helfen, bedrohliche Situationen möglichst zu vermeiden, sondern darüber hinaus besseres Verständnis füreinander schaffen, denn was angesichts meist prompt hochkochender Reaktionen und Schlagzeilen die Wenigsten offenbar wissen – nach Unfällen mit Lkw pauschal deren Fahrer zum Alleinschuldigen zu erklären, ist viel zu kurz gegriffen.

Ich seh dich nicht

Vielmehr spielen bei der Begegnung von Radfahrern, Fußgängern und Lkw im Straßenverkehr neben der Achtsamkeit die Sicht und der Winkel tragende Rollen und damit wäre schon der Bogen zum sogenannten toten Winkel geschlagen. Was darunter zu verstehen ist, bekamen nun die Königsteiner Grundschulkinder in beeindruckender Weise vor Augen geführt. Nachdem vor dem auf dem Schulhof parkenden Lkw sowie rechts von den Außenspiegeln in einem Winkel abgehend jeweils Bereiche mit rot-weißem Absperrband abgesteckt worden waren, begann für die 3. und 4. Klassen jeweils nacheinander der praktische Anschauungsunterricht. Betreut von insgesamt fünf Round Table-Mitgliedern, drei aus Kronberg und zwei aus Frankfurt, schlüpften immer zwei Kinder in Rollen. Eines spielte jeweils den Lkw-Fahrer und kletterte dazu sichtlich voller Stolz und Respekt auf den Sitz im Führerhaus, das Andere positionierte sich vor der Front des Fahrzeugs. „Jetzt geh mal soweit zurück, bis du den Fahrer sehen kannst und winke ihm dann“, so die klare Ansage des Round Tablers, und Schritt für Schritt entfernte sich das Kind vom Fahrzeug. Umgekehrt sollte auch der „Fahrer“ winken, sobald er den Schüler aus dem Führerhaus heraus erspähte. Das Erstaunen und Erschrecken war groß, als den Kindern jeweils gegenwärtig wurde, wie spät sie das Gegenüber tatsächlich erst wahrnahmen. Nicht selten geschah das sogar erst hinter dem abgesteckten Bereich. Noch viel drastischer fiel das Erwachen beim Blick des Fahrers nach rechts aus. Dort, im toten Winkel, stand der Rest der Schulklasse, doch von diesen Kindern sah er nicht ein Einziges. Nach vorliegenden Erkenntnissen enden 4 von 6 Unfällen im Straßenverkehr für Kinder tödlich, nachdem sie von rechts abbiegenden Lkw überfahren werden. Diese Kinder befanden sich im toten Winkel – das heißt, die Lkw-Fahrer konnten sie schlichtweg – trotz normaler Außenspiegel – nicht sehen!

Keine Vorschrift

„Seit Einführung dieses wunderbaren Schulprojekts änderte sich zwar die europäische und nationale Gesetzgebung und mittlerweile gibt es auch Spiegel, die vollständigen Einblick in den toten Winkel bieten und problemlos nachgerüstet werden können, nur leider ist dies nicht zwingend vorgeschrieben, sondern geschieht lediglich auf freiwilliger Basis womit die Gefahr für die Kinder bleibt“, bedauerte die stellvertretende Schuleltern-Beirätin Christina Schwilp. Gemeinsam mit Peter Linhart vom Verkehrsausschuss begleitete sie von Seiten der Grundschule die Aktion ebenso wie Direktion und Lehrerschaft.

„Unsere Schule ist eine „Gesundheitsfördernde Grundschule“ und die Gesundheit und Verkehrssicherheit unserer Kinder, ob als Fußgänger oder Radfahrer, liegt uns sehr am Herzen. Die Gefahr, die durch den Straßenverkehr in Innenstädten ausgeht, schwingt in unserem Alltag als beständige Sorge mit“, gewährten Schuldirektorin Margit Eichhorn und ihre Stellvertreterin Annika Kurz Einblick in die Beweggründe, die Aktion an die Königsteiner Grundschule zu holen.

Das Projekt ist ein weiteres Puzzleteil der Verkehrserziehung, nachdem bereits Warnwesten für das 1. Schuljahr, die allerdings erstmals nicht mehr vom ADAC kostenfrei zur Verfügung gestellt wurden, sondern von Peter Linhart gesponsert wurden, ebenso zu nennen sind wie die Aktion „Zu Fuß zur Schule“, motorisches Radfahrtraining und Fahrradprüfung.

Theorie und Praxis

Am letzten Freitag stand für die Grundschüler der dritten und vierten Klassen vor allem praxisnah auf dem Stundenplan, sich aktiv auf die drohenden Gefahren im Straßenverkehr vorzubereiten durch das Training, wie sie den toten Winkel vermeiden können. In der Unterrichtseinheit zuvor wurden Situationen an Kreuzungen und Fußgängerüberwegen besprochen. So lernten die Kinder, worauf sie bei der Überquerung der Straße achten sollten und wie sie vom LKW-Fahrer gesehen werden. Anschließend wurde das theoretische Wissen auf dem Schulhof geübt. Zur Vertiefung des Themas zu Hause, erhielt jedes Kind ein faltbares Fahrerhaus, durch das das Sichtfeld im Lkw nochmals spielerisch nachvollzogen werden kann.

Sieben einfache Schritte

Diese sieben einfachen Schritte zum „Raus aus dem toten Winkel“ gab es mit auf den Weg:

1. Prüfe, ob es einen Fußgängerüberweg oder einen Zebrastreifen in der Nähe gibt, den du statt dem Straßenverlauf nutzen kannst.

2. Halte bei roter Ampel im Sichtbereich des Pkw oder Lkw.

3. Stelle über den Seitenspiegel Sichtkontakt zum Fahrer her. So gehst du sicher, dass er oder sie dich sehen kann.

4. Achte auf ausreichend Sicherheitsabstand zum Fahrzeug an deiner Seite. So erhöhst du die Wahrscheinlichkeit deutlich gesehen zu werden.

5. Behalte bei grünem Ampellicht und dem Start deiner Fahrt stets den Lkw oder Pkw im Auge.

6. Bist du dir unsicher, bleibe hinter dem abbiegenden Pkw oder Lkw stehen und lass ihn abbiegen. Stelle sicher, dass die darauffolgenden Fahrzeuge dich sehen können.

7. Hast du alle vorangegangenen Punkte befolgt und die Fahrbahn ist frei – überquere die Straßenkreuzung zügig.

Nicht nur die Kinder hatten sichtlich Spaß an der Schulaktion, auch Schulte Bauzentrum Rhein-Main GmbH-Angestellter Alexander Mitter, der „seinen“ Lkw zuvor einer Handwäsche unterzogen hatte, damit er blinkte und blitzte, verfolgte das wuselige Geschehen mit sichtlichem Vergnügen. „Natürlich waren sowohl mein Chef als auch ich gerne bereit, dieses wichtige Projekt zu unterstützen.“ Ein paar nachdenklichere Gedanken gingen ihm dabei dennoch durch den Kopf. „Ich finde es äußerst bedauerlich, dass der Stellenwert der Lkw-Fahrer in der Bevölkerung insgesamt so schlecht ist. Es wird dabei völlig außer Acht gelassen, dass wir einen Großteil der Warentransporte übernehmen, weil sowohl der Bahn- als auch der Schiffsverkehr das in dieser Form gar nicht leisten können!“ Diese Berufe sollten seiner Überzeugung nach viel mehr geschätzt werden.

Des Weiteren verlieh er seinem Unverständnis darüber Ausdruck, dass die inzwischen zur Verfügung stehenden Spiegel, die die Unfallgefahr nachweislich senken, nicht zwingend vorgeschrieben sind. Mitters Arbeitgeber liegt die Sicherheit am herzen, deshalb hat seinen kompletten Fuhrpark längst damit ausgestattet, weshalb ein Teil der Außenspiegel auch zugeklebt werden mussten, damit der Lerneffekt überhaupt zum Tragen kommen konnte.

Der ungewöhnliche Schultag für die Grundschüler führte ihnen in jedem Fall vor Augen: Gegenseitige Rücksichtnahme und Beachtung einiger Regeln sind Maßnahmen, die zumindest einen Beitrag zur Unfallvermeidung leisten können.

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