Judas als Teil des göttlichen Masterplans

Kronberg (aks) – Der Verrat Judas an Jesus Christus erregt seit mehr als 2.000 Jahren die Gemüter. Der Fall: Judas hat Gottes Sohn für 30 Silberlinge an die Wachen im Garten Gethsemane verraten und damit Jesus ans Kreuz geliefert, so steht es geschrieben.

Nur nicht bei Walter Jens. Der große Literaturhistoriker, Schriftsteller und Gelehrte hat dem vermeintlichen Verräter Judas Ischariot in seinem letzten Roman „Der Fall Judas“ ein wortgewaltiges Plädoyer gewidmet. War es tatsächlich Verrat oder der bedingungslose Gehorsam eines Jüngers Jesu? Zeit für eine Verteidigungsrede, die Judas höchst selbst vor einem fiktiven Tribunal, dem Publikum, hält, mit der flehentlichen Bitte um Einsicht in sein Handeln. Er weiß um sein Verbrechen, doch seien Zweifel angebracht, ob ohne ihn der göttliche Plan erfüllt worden wäre. Hätte er „Nein“ gesagt, wäre Jesus als alter Mann eines natürlichen Todes gestorben. Es hätte keine Verhaftung, keine Folter, keinen Tod am Kreuz, kein Kreuz und keine Kirche gegeben und vor allem keine Erlösung aller Sünder.

Der Schauspieler Isaak Dentler, der mit vielen deutschen Regisseuren gearbeitet hat, am Schauspiel Frankfurt agierte und nun am Berliner Ensemble engagiert ist, verleiht Judas seine Stimme, grell und schrill, verzweifelt leise und zornig laut. Die Spannung in den voll besetzten Reihen in St. Johann ist spürbar, das (nachdenkliche) Schweigen in der Kirche wirft Dentler alias Judas auf sich selbst zurück. Sein Appell ist eindringlich und lässt niemanden unberührt. Judas Gewissenskampf ist qualvoll – auch für alle Anwesenden. Tim Roth, Theatermusiker am Schauspiel Frankfurt, begleitet die Lesung kongenial auf seinem Kontrabass und unterstreicht die unerbittlichen Worte Dentlers ebenso wie seine Sprachlosigkeit mit teils durchdringenden elektronischen Klängen.

Vor der Lesung spielt Bernhard Zosel das Orgelwerk. „Pessach“, eine jüdische Orgelkomposition von Herman Berlinski, der 1941 in die USA emigrierte, und stimmt mit diesem Vorspiel die Gemeinde auf die Tragik der Person Judas ein.

Die Tat

„Er lächelte und ich küsste ihn mit den Worten: Gegrüßet seist du, oh Rabbi!“, so hatte Judas es mit den Soldaten verabredet.

Jesus´ Hand auf seiner Schulter sieht Judas als letzten Liebesbeweis. Da sei Sanftmut und Licht gewesen vor der Dunkelheit und der Folter, „bevor gebrüllt und geschlagen, gebrochen verhöhnt und gemartert wurde…“ Judas weiß um die Schwere seiner Tat und die tödlichen Folgen, aber er verteidigt sich: „Ich habe dich nicht verraten, das ist doch Aberwitz! Was war da zu verraten?“, schließlich hätte die Geheimpolizei über seinen Aufenthalt Bescheid gewusst und alle „Dossiers“ bereits gehabt. Was sei denn das große Geheimnis gewesen? Der Sohn Gottes, der König aller Stämme? „Das hat er doch selbst gesagt auf dem Marktplatz. Jesus wollte selig machen, was verloren ist. Brauchte es einen Verrat? Nein, Herr, ich habe dich nicht preisgegeben!“ Seien sie nicht eher wie Brüder gewesen, Judas und Jesus, die Gottes Masterplan ausführen sollten?

„Ich wusste, wie sehr er sich fürchtete vor dem Tod, nein, vor dem Sterben“. Judas wusste um seine Schwäche. „Er brauchte Beistand, Trost. Darum hab‘ ich es getan: um ihm zu helfen.“ Judas fleht nun selbst um Gottes Beistand in seiner Einsamkeit und Verzweiflung, „aber du antwortest nicht mehr“. Und er stöhnt Jesus` letzte Worte am Kreuz: „Mein Gott warum hast du mich verlassen?“

Das Motiv

Als Jude sei es ihm ums Geld gegangen, so die ewige Anklage. Seit über 2.000 Jahren hieße es: „Judas, der Jude, der Schacherer, das Kainskind!“ Dabei seien 30 Silberlinge fast „ein Nichts“, davon konnte man sich einen Sklaven kaufen oder einen Anzug, einen gebrauchten. Judas warf das Geld schließlich in den Tempel, wie einst Zacharias: „Er und ich handelten auf Gottes Befehl.“ Der Schandlohn sei also nicht sein Motiv gewesen. Judas fragt in die Menge: „Ich ein Dieb? Ein Betrüger? Ein Mann, der aus Geldgier seinen Herren verrät. Ein Denunziant für ein paar Groschen und trotzdem ein Jünger?“ Dentler wird jetzt aggressiv: „Denkt Ihr nicht nach?“ Ob das Vaterunser dann auch nur eine Phrase sei, „führe uns nicht in Versuchung, eine Bitte, die für euch nicht gilt?“ Es gab einen Gott zur Planerfüllung – ohne Warnung in letzter Sekunde! Wäre Jesus dann „ein Racheengel, der Judas vor die Welthunde hetzte, der zusah wie er zerfetzt wurde?“ Und noch eindringlicher: „Ist euer Herr ein Mörder? Nein, er ist es nicht, er war es nicht.“

Judas als Märtyrer

Jesus habe gewusst, dass er, Judas, einverstanden war, zu tun, was Gottes Wille war: „Es bedurfte eines Menschen für den Anschlag von Gott, … ein Mensch, der sich bereit findet, der Sünde aller Sünden seine Stimme zu verleihen – einen wie Judas, einen wie ich!

Ich tat es freiwillig zur Rettung aller Menschen, eurer Rettung! Wir bedürfen der Erlösung. War es Verrat oder Gehorsam, den Satan zu spielen? Der am Kreuz wusste um meine Rolle. Meint ihr, er hätte sich betrügen lassen, er hätte den Spitzbuben nicht erkannt?

Mein Herr hatte es leichter als ich. Der Menschensohn muss sterben, aber wehe, der ihn verrät. Ich kann nicht mehr!“

Hier spricht ein Verdammter, der für immer Höllenqualen leiden muss, und dem als Teufel jede Ehrenrettung für immer versagt werden wird, nicht nur auf Erden, sondern auch im Himmel und in der Hölle. „Judas, der Mörder, das hab ich doch nicht verdient!“

Verteidigung

Judas bittet um rationale Argumente, um Logik. „Wo sind eure Zweifel?“ Seit 2.000 Jahren sei er, Judas, „der Sündenbock und Sprecher eines Volkes, das ausgerottet werden muss. Ich bin ein Jude, doch der am Kreuz war auch einer.“ Und der Gang der Geschichte?

„Jesus, der Jude, verdient er auch den gelben Stern und ins Gas gejagt zu werden. Judas, der Jude, der Frömmste von allen, von Jesus auserwählt, in Gottes Drama den Verworfenen zu spielen“, dafür verlange er, Judas, Respekt, „für das Böse zu zeugen, um das Böse zu entlarven“.

Gab es für ihn je die Freiheit, sich gegen Gottes Plan zu entscheiden, das ist die entscheidende Frage in dem Plädoyer seiner Verteidigung. Schließlich sei er seiner Aufgabe für würdig befunden worden und pocht auf sein Recht. Hätte sein Nein geholfen? „Wäre ich dann nicht an Gott zum Verräter geworden? Ohne Judas kein Kreuz, keine Kirche, keine Botschaft, dass wir erlöst sind. Ein Schütteln statt eines Nickens und Gottes Plan wäre ein Nichts?“

Schuldeingeständnis

„Ich habe es getan, dann seid ihr erlöst, ihr könnt mir danken“, so lauten Judas Worte. Es wäre einfacher gewesen für ihn an seiner Stelle zu sterben als Jesus töten zu lassen. „Ich hielt es aus.“ Judas bittet mit letzter Kraft um ein Zeichen Gottes: „Gib mir ein Zeichen, du hast recht getan…Wie stumm du bist.“ Eine Versöhnung mit Gott und den Menschen scheint auf ewig ausgeschlossen, mit der Schuldzuweisung musste Judas leben und sterben und mit ihm alle seine Nachfahren. Rehabilitation geschweige denn Vergebung im christlichen Sinn hat es nie gegeben für Judas. Judas, ein armer Teufel, der für immer allein in der Hölle schmort?

Die Zuhörer in St. Johann schwiegen beklommen unter dem starken Eindruck dieser Lesung, die unter die Haut ging und an alten Legenden und wohlgefälligen Schuldzuweisungen rüttelte. Gerade jetzt unter dem Eindruck des Krieges gegen Menschen und gegen die Wahrheit, schien die Warnung vor Vorverurteilungen richtig und aufwühlend... Viele Gedanken, sehr leidenschaftlich vorgetragen von Isaak Dentler in der bildhaften Sprache Walter Jens` machten nachdenklich. Ostern als Passionsgeschichte Jesus und Judas.

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