Jahrbuch: Fokus liegt auf der Zeit nach Krieg und Revolution

Fleisch, Suppe und Hühnchen im Weckglas: Das Werbe-Leporello der Firma J. Weck GmbH aus dem Jahr 1900 ist Teil einer Hommage zum 180. Geburtstag von Johann Weck im Jahrbuch 2021.Repro: a.ber

Hochtaunus (a.ber). „Sie stießen mich die Treppe hinunter und schleppten mich vor die Tür, wo sich schon eine große Menschenmenge angesammelt hatte. Unter Gewalttätigkeit hängten sie mir ein Schild um mit folgender Aufschrift: ‚Luise Brändel, geb. Hochkirch hat sich intim mit einem Franzosen abgegeben und damit die Ehre einer deutschen Frau in den Dreck gezogen.‘“ Was der Bad Homburger Bürgerin Luise Brändel am 25. August 1941 geschah, wie sie unter Beschimpfungen und Demütigungen durch die Elisabethenstraße, Wallstraße und über die Louisenstraße bis zum Waisenhausplatz getrieben und schließlich von der Gestapo in das Untersuchungsgefängnis Hammelgasse in Frankfurt gebracht und zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, das ist nachzulesen in den Entschädigungsakten der Kreisbetreuungsstellen des Obertaunuskreises.

Im Juni 1945 hatte der Regierungspräsident in Wiesbaden Landräte und Oberbürgermeister angewiesen, Dienststellen einzurichten, „zur Betreuung derjenigen Bevölkerungskreise, die aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen unter dem nationalsozialistischen Regime verfolgt und diskriminiert wurden (…) um das entstandene Unrecht nach Kräften gut zu machen“. In den Folgejahren gingen rund 550 Anträge von Betroffenen ein, darunter auch jener der Luise Brändel, in dem die zum Tatzeitpunkt 34 Jahre alte Frau das ihr angetane Unrecht ausführlich schilderte. Die Akten mit den Anträgen, die bis 2018 im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden aufbewahrt waren und nun im Besitz des Kreisarchivs des Hochtaunuskreises sind, sind Gegenstand einer Aufarbeitung, die die im Kreisarchiv angestellte Kristina Jänicke im neuen „Jahrbuch Hochtaunuskreis 2021“ vorstellt.

Mit 32 Beiträgen zur Geschichte und Gegenwart stellt das neue Jahrbuch wieder eine Fundgrube dar: Informativ und spannend geschrieben und von vielen interessanten Bildern und Fotos ergänzt, greifen die Autoren Themen aus Vergangenheit und Gegenwart heraus. Der Fokus des 29. Bandes der Reihe, wie gewohnt sorgfältig von Cornelia Kalinowski vom Fachbereich Kultur im Landratsamt des Hochtaunuskreises betreut und zusammengestellt, liegt 2021 auf dem Thema „Der Taunus nach Krieg und Revolution“. Nicht nur das Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern auch die Revolutionen 1789 und 1848 wurden in den Taunusgemeinden und im Usinger Land als Krisenzeiten erlebt.

So ist im Beitrag von Helmut Hujer über die Besetzung des Gebiets zwischen Main und Lahn durch die US-Army 1945 Erstaunliches über die Kämpfe zwischen den US-Truppen und Resten von SS-Einheiten zu lesen: Rund um Usingen und Schmitten leisteten über die Pfalz und den Rhein gekommene dezimierte SS-Einheiten unter dem Kommando von SS-Gruppenführer Karl-Heinrich Brenner Ende März 1945 erbitterten Widerstand. Erst am Ostersonntag siegte die US-Army in Usingen, „und etwa 80 US-Soldaten gingen zur katholischen Kirche und verlangten einen Oster-Gottesdienst“.

Sei es die Odyssee des Soldbuches des deutschen Soldaten Helmut Wolfsheimer, das von einem US-Soldaten 1944 nach Amerika mitgenommen worden war und im Jahr 2019 auf Umwegen zu den Nachfahren Wolfsheimers nach Glashütten gelangte; seien es die Schilderungen der Anfänge des Bundes der Vertriebenen im Hochtaunuskreis oder der erschütternde Beitrag „Gestohlene Kindheit“ über Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs – Aufarbeitung von Geschichte beginnt immer da am eindrücklichsten, wo Stimmen und Schicksale von Menschen der unmittelbaren Umgebung laut werden.

Das Schicksal von Heinrich Michel, dem „Deutschen Michel“, 1822 in Wehrheim geboren, Mitbegründer der deutschen Turner-Bewegung und Gründer des Homburger Turnvereins, der als „Radikal-Demokrat“ in politische Konfrontation mit dem Homburger Landgrafen beim Turnfest 1849 auf dem Großen Feldberg geriet, ist ebenso spannend zu lesen wie die Geschichte Königsteins und Kronbergs im Umbruch vom 18. zum 19. Jahrhundert oder die Schilderung der immensen Anstrengungen des Usinger Schriftstellers und Journalisten Friedrich Emminghaus (1814-1872) für Demokratie und Freiheit. Wer weiter in dem 272 Seiten umfassenden Jahrbuch stöbert, findet Beiträge über 30 Jahre Partnerschaft zwischen dem Hochtaunuskreis und dem Distrikt Gilboa in Israel, über die Entwicklung der AG Geschichts- und Heimatvereine im Kreis, über gefährdete Tierarten oder die bedeutenden Funk-Experimente zum Mond, die vier Amateurfunker ab den 1970er-Jahren im Kirdorfer Feld in Bad Homburg durchführten.

Über den „Israelitentodtenhof“ in Oberursel wird ebenso berichtet wie über den Erfinder des Weck-Glases, den Schneidhainer Johann Weck, und über die Geschichte des Ortes (Alt)-Weilnau. In die Gegenwart führen Aufsätze zu Chancen des urbanen Landlebens im Hochtaunuskreis oder „Corona im Hochtaunuskreis“ mit Fakten und Zahlen zur Pandemie-Entwicklung 2020.

!Das neue „Jahrbuch Hochtaunuskreis 2021“, herausgegeben vom Hochtaunuskreis, ist im Societäts-Verlag erschienen (ISBN 978-3-95542-389-6) und kostet 15 Euro. Es ist erhältlich im Buchhandel oder im BürgerInformationsService (BIS) des Landratsamtes. Bestellungen per E-Mail an kultur[at]hochtaunuskreis[dot]de.



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