„… weil Ihnen Demokratie am Herzen liegt“

Festakt „Denk ich an Deutschland“ am Tag der Deutschen Einheit in der Erlöserkirche: Christine Lieberknecht (2. v. r) und Prof. Dr. Nicole Deitelhoff (sitzend) tragen sich in Anwesenheit von Petra Kühl und Pfarrer Andreas Hannemann von der evangelischen Erlöserkirchengemeinde sowie Alexander Hetjes (v. l.) und Dr. Hauke Christian Öynhausen (r.) ins Goldene Buch der Stadt Bad Homburg ein. Foto: a.ber

Von Astrid Bergner

Bad Homburg. „Was ist eigentlich typisch deutsch? Was ist da am wichtigsten für mich? Dass wir eben kein Zentralstaat sind, sondern mit unseren vielen unterschiedlichen Bundesländern ein Land der Vielfalt. Und dass wir, diesseits und jenseits der ehemaligen Grenzen, eine verwobene Kunst-, Kultur- und Freiheitsgeschichte haben. Und wir haben nach wie vor eine wache, belastbare Bürgergesellschaft, deren kleinsten Einheiten – den einzelnen Menschen, den Familien und vor Ort Verantwortlichen – unsere Politiker zuallererst vertrauen sollten. Und da ist im Moment viel Luft nach oben!“

Mit großer Überzeugungskraft, gespeist vom Bewusstsein der Freiheitsgeschichte Deutschlands vom 19. Jahrhundert bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990, plädierte Thüringens Ministerpräsidentin a. D. Christine Lieberknecht beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in der Erlöserkirche Bad Homburg in ihrer Festrede für eine optimistische und hoffnungsvolle Haltung aller Deutschen in Bezug auf unsere Demokratie in krisenvollen Zeiten. Mit Prof. Dr. Ni-cole Deitelhoff, Friedens- und Konfliktforscherin aus Frankfurt, hatten die Veranstalter eine zweite unbestechlich wache und mutige Diskutantin eingeladen. Deitelhoff skizzierte den derzeitigen Vertrauensverlust einer Mehrheit der Deutschen in die demokratischen Institutionen und die aktuelle reale Demokratie: Sie mahnte an, dass Demokratie von der Bereitschaft lebe, als Gleichberechtigte miteinander zu ringen, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen. „Krisen haben existenzielle Ängste hervorgerufen, aber die Politik reagiert falsch und meint, sie müsse die Bürger umfassend schützen und Trostpflaster auf Wunden kleben, notwendig ist es jedoch, dass wir annehmen, dass es etwas zu gestalten gibt und wir alle positiv daran mitwirken können.“ Fast 400 Bürger, Vertreter aus Stadt- und Landespolitik und viele Kirchenmitglieder waren der Einladung zum Austausch unter dem Titel „Denk ich an Deutschland – Herausforderung 3. Oktober“ der evangelischen Erlöserkirchen-Stiftung „Kirche in der Stadt“ und der Stadt Bad Homburg gefolgt.

Im zentralen Festvortrag wies die 1958 in Weimar geborene Thüringer CDU-Politikerin und evangelische Pfarrerin Christine Lieberknecht auf „das vergessene Jahr“ hin – die elf Monate zwischen dem Fall der innerdeutschen Mauer am 9. November 1989 bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Sie erinnerte an Protagonisten der DDR-Bürgerrechtsbewegung und die Einrichtung „runder Tische“ als „Vorparlament“, damals bewusst angelehnt an die Märzrevolution 1848 und den Versuch der Gründung eines deutschen Nationalstaats mit Verfassung. „Warum sind uns diese Monate des Ringens um Demokratisierung so wenig in geschichtlicher Erinnerung? Sie können uns doch versichern, dass wir um einen Grundrechtskatalog, um Freiheit und Grundrechte ringen.“ Und, so die Festrednerin, „alle lauten Prognosen, die im Herbst 2022 vorgestellt wurden, sind nicht eingetreten: bürgerkriegsähnliche Zustände, ein deutscher Wut-Winter, die Aufrüstung der Feinde der Demokratie – wir haben keine Veranlassung, so martialisch zu reden.“ Christine Lieberknecht sprach vom aktuellen Tiefpunkt der hoffnungsvollen Zuversicht der Deutschen. Die Demokratie an sich sähen die meisten Deutschen aber unbeirrt als beste Staatsform an. „Sie alle sind ja hier, weil Ihnen die Demokratie am Herzen liegt“, wandte sich Christine Lieberknecht ans Publikum. „Und im Hoch der AfD sehe ich als Demokratin eine Problem-Anzeige. Wir sollten einander nicht wortmächtig brandmarken, sondern das Phänomen und angesprochene Probleme lösungsorientiert ansehen. Politiker und Medien können in Thüringen nicht gegen Wähler ein Dauer-Bashing machen – ein erhobener Zeigefinger ändert nach meiner Erfahrung kein Wahlverhalten!“ Demokratische Debattenkultur auf Augenhöhe sei nötig und eine „Bringschuld der Politik, das behördliche und politische Misstrauen gegen die Bürger einzuhegen, das nur Widerstand gegen die Übergriffigkeit des Staates hervorruft. Wir müssen die Demokratie aus dem Aggressions-Modus herausholen.“

Die Demokratie habe viel mit einem Geländewagen ohne Federung zu tun, und eigentlich nichts mit einem Schlafwagen, so Professorin Nicole Deitelhoff in der Diskussion mit Dr. Hauke Öynhausen und Christine Lieberknecht. Viele Bürger sähen den Zusammenhalt extrem gefährdet, kämen aber nicht aus „ihren gesellschaftlichen Blasen“ heraus. In Zusammenhang mit Angst vor der Zukunft trete dadurch derzeit eine Verrohung der Debattenkultur ein: Nicht das Argument sei schlecht, sondern das Gegenüber – „und das erleben wir derzeit auch in der politischen Klasse in Deutschland.“ Angst sei ein schwieriger Boden, um miteinander zu ringen, man rutsche schnell in die persönliche Ebene ab und versuche, so das eigene Bild zu wahren, sagte Deitelhoff. Wie Christine Lieberknecht kritisierte die Frankfurter Friedens- und Konfliktforscherin die primitive Polarisierung durch Medien und Politiker bei Lösungsfindungen in der Diskussion. Auch Bad Homburgs Oberbürgermeister Alexander Hetjes hatte in seiner Begrüßungsrede Kritik an Des- und Fehlinformation durch Medien geübt; Hetjes bemerkte, es falle den etablierten Parteien Deutschlands spürbar und fühlbar schwer, verstehen zu wollen, was die Menschen bewegt.

Kirchen als Sozialisations-Instanzen

Braucht Demokratie die Religion und die Kirche? fragte Stiftungs-Vorsitzender Öynhausen. Die Hoffnung auf Mitgestaltung bei Menschen zu beleben, sei auch eine wichtige Aufgabe christlicher Kirchen als bedeutender Sozialisations-Instanzen unserer Gesellschaft mit inhaltlichen Aussagen, meinte Nicole Deitelhoff. Es reiche nicht aus, wenn Kirche sich als Charity-Organisation sehe. Christine Lieberknecht: „Der christliche Glaube hat etwas Dialogisches: Ich bin bereit zu sehen, ich bin bereit zu hören. Die Demokratie braucht diesen Raum, der größer ist als menschliches Denken.“ Die Thüringische CDU-Politikerin ermunterte angesichts des Tages der Deutschen Einheit: „Wir dürfen uns auch freuen über ein gelungenes Stück deutscher Geschichte, und daraus erwächst Hoffnung!“ Der musikalischen Ausgestaltung der Feierstunde durch den Kammerchor der Erlöserkirche unter Kantorin Susanne Rohn folgte am Ende das Singen der deutschen Nationalhymne mit allen Anwesenden gemeinsam und ein Empfang der Stiftung „Kirche in der Stadt“ auf dem Kirchvorplatz.

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