Über die Kunst des Erbens

Gisela Stelly Augstein gibt einen tiefgründigen Einblick in Familiengeheimnisse bei der Lesung in der Buchhandlung Supp’s. Foto: nl

Bad Homburg (nl). „Sagen, was ist“, lautete das Credo ihres Ex-Mannes, dessen Namen sie noch trägt. Zwanzig Jahre war die Schriftstellerin und ehemalige ZEIT-Journalistin Gisela Stelly Augstein mit Rudolf Augstein verheiratet, dem großen Spiegel-Herausgeber, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Aus dieser Ehe ging Sohn Julian Robert hervor. Der weithin der Öffentlichkeit bekannte Publizist Jakob Augstein, lediglich Ziehsohn aus der dritten Ehe Rudolf Augsteins, soll schon seit Kindertagen gewusst haben, dass er aus einer Liaison seiner Mutter mit dem Schriftsteller Martin Walser entstammt und ganz bewusst auch gegenüber dem ahnungslosen Ziehvater sein Kuckuckskind-Status verschwiegen haben, um seinen Erbanteil nicht zu gefährden.

Nun hat Gisela Stelly Augstein mit ihrem neuen Buch „Der Fang des Tages“ einen Plot aufgegriffen, in dem es um den veritablen Erbstreit der Angehörigen eines verstorbenen Medienmoguls geht.

In der Traditions-Buchhandlung Supp’s in der Louisenstraße ist sie zu Gast, um dieses neue Werk vorzustellen. Ihr zur Seite steht ihr Verleger Rainer Weiss, ehemals einflussreicher Lektor des legendären Suhrkamp Verlags, bei dem – nebenbei bemerkt – die Bücher Martin Walsers erscheinen. Sie lesen heute zusammen, wechseln sich beim Vortrag einzelner Textpassagen ab. Inhaberin Martina Bollinger versteht es beispiellos, ihre Buchhandlung in einen stimmungsvollen besonderen Ort zu verwandeln. Ob es an ihrer Obsession für die Literatur liegt, daran, dass schon viele namhafte Schriftsteller bei ihr waren und sie einen souveränen Umgang mit den Größen des Literaturbetriebs pflegt? Auf jeden Fall ist die literarische Welt bei ihr zu Hause, und sie macht möglich, was nur ihr gelingt: Sie pflegt mit ihrem Laden ein kulturelles Kleinod in der Kurstadt. Zwischen den Buchregalen hat sie für den heutigen Anlass ihre Stühle für das Publikums aufgereiht, es gibt ein Glas Wein, die Atmosphäre ist beinahe privat.

Gisela Stelly Augstein wird allerdings an diesem Abend kein Wort darüber verlieren, dass ihr Roman klare Bezüge zum eigenen Zwist trägt. Sie bleibt ganz ihrer Contenance verpflichtet. Auf interessante Weise erzählt sie von einer befreundeten Anwältin, einer Juristin mit Fachgebiet Erbrecht, von der sie viele Anregungen für ihren Roman erhalten hat. Erstaunlicherweise würde im Erbfall bei den meisten Familien ein ähnliches Muster auftreten, weiß sie auch aus ihrem befreundeten Umfeld und aufgrund ihrer Rechercheergebnisse zu erzählen. Geschwister überrolle selbst im hohen Erwachsenenalter noch einmal das Gefühl, mitunter zu kurz gekommen zu sein. Das Erbe müsse dann fast als nachträglicher Beweis der elterlichen Liebe und Aufmerksamkeit herhalten. Dieser Impuls verleite mitunter dazu, bis zum Äußersten zu gehen und um das zu kämpfen, wovon man glaube, es stünde einem zu.

Die Abgründe und Gefühlslagen hat Gisela Stelly Augstein in einem fulminanten Roman aufs Feinste ins Leserlicht gerückt. Und eines ist sicher: Beim Lesen dieses Buches kommt jeder auf seine Kosten.



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