Wissenschaft trifft Bauchgefühl

Pianist Roman Salyutov gastiert in der Schlosskirche. Foto: abv

Bad Homburg (abv). Ein Pianist, der gleichzeitig einen Doktortitel in Musikwissenschaft sein Eigen nennt, lässt bei manchem die Erwartung eines „verkopften“ Konzertabends entstehen. Weit gefehlt bei Roman Salyutov, der das zweite Konzert der Reihe Meisterpianisten der Bad Homburger Schlosskonzerte in der Schlosskirche bestritt.

Zu Anfang seines Vortrags kam aber zuerst der Wissenschaftler zum Vorschein. Zu allen Werken gab er eine kurze Einführung, so auch zur Klaviersonate Nr. 32, dem berühmt-berüchtigten Opus 111 von Ludwig van Beethoven. Das Publikum erfuhr so, dass die Komponisten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich fragten, ob die Komposition von Sinfonien und Sonaten nach Beethoven noch möglich wäre. Als Werk zum Einstieg hatte Salyutov die Latte also sehr hochgelegt. Kraftvoll, ohne die Details zu missachten, modellierte der 38-jährige in St. Petersburg geborene Pianist das ikonenhafte Maestoso-Thema. In der Folge entfaltete sich der erste Satz mit häufigen, sehr virtuosen parallelen Läufen und Oktavpassagen, die Salyutov mit Bravour meisterte. Die Arietta, Basis der Variationen des zweiten und gleichzeitig letzten Satzes, wurde von Salyutov so langsam interpretiert, dass der innere Zusammenhang komplett verloren ging. Die Inkonsistenzen in den Tempi setzten sich dann in der hochkomplexen Komposition nahezu bis zum Ende des Stückes fort. Mehr Kopf und weniger Bauch hätten diesem Satz gut getan.

Mit der Klaviersonate Opus 2 in fis-Moll von Johannes Brahms beantwortete Salyutov, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt und seit Jahren auch deutscher Staatsbürger ist, die zu Anfang gestellte Frage. Heute wissen wir, dass viele Sonaten nach Beethoven folgten und gerade das Jugendwerk des 20-jährigen Brahms eine grandiose Fortsetzung dieser Werkgattung darstellt. Salyutov, ein zierlicher Mann, stemmte die vollgriffigen Akkordpassagen kraftvoll in die Tasten. Hier war Salyutov in seinem Element. Mit höchster Präzision arbeitete er die Keimzelle, die das gesamten Werk thematisch bestimmt, heraus. Im zweiten Satz, mit „Andante con espressione“ überschrieben, wurde Salyutov zum Erzähler am Klavier. Wie vom Komponisten gefordert, entfaltete er die Melodie, die Brahms dem „Winterlied“ des Minnesängers Kraft von Toggenburg entnommen haben soll, mit großem Ausdruck und geradezu schwebend. In den folgenden Variationen, in der die Melodie kunstvoll verarbeitet wird, entwickelten sich zauberhafte poetische Momente. Als habe er den sprichwörtlichen Schalter umgelegt, brachte Salyutov das folgende Scherzo in seinen rhythmischen Akzenten und heiteren Momenten, vor allem in den Trio-Passagen, zum Leuchten. Im letzten Satz spürt man am ehesten den noch jungen, „unfertigen“ Komponisten Brahms. Kein Problem für Salyutov, der nicht versuchte, diesen Satz in eine Form zu gießen, sondern intuitiv seinen mäandernden Motiven folgte. Eine gelungene Interpretation.

Die russische Schule, der Trimm auf höchstem Niveau, hat viele technisch perfekte Pianisten hervorgebracht. Roman Salyutov profitierte ebenso von dieser Ausbildung, die auf Begabung, aber auch Disziplin und unbedingtem Willen aufgebaut ist. Das dritte Werk des Abends, Franz Liszts „Après une lecture du Dante – Fantasia quasi Sonata“, verlangt exakt nach einem solchen Interpreten. Die höchsten Schwierigkeiten von Liszts Klavierdichtung wurden von Salyutov virtuos und in jeder Phase gekonnt umgesetzt, ohne dabei jemals die Intention des Komponisten, Dantes Dichtung in Musik zu setzen, zu vernachlässigen. Der langanhaltende Applaus des begeisterten Publikums forderte zwei Zugaben, die der von diesem Mammutprogramm sichtlich erschöpfte Roman Salyutov mit Werken von Chopin und Rachmaninov gerne erfüllte.



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