„Heinrich von Gagern - bürgerliches Idol der Revolution 1848/49“

Rüdiger von Gagern, Ur-Ur-Enkel Heinrichs von Gagern, verfolgte aufmerksam den Vortrag von Dr. Frank Möller von der Universität Greifswald. Der Plenarsaal im Rathaus war gut gefüllt.Fotos: Jürgen Moog/Miriam Frings

Kelkheim (tub) – Öffnung des Plenarsaals um 18 Uhr für einen Vortrag, der am Mittwoch vergangener Woche für 19 Uhr angesetzt war: Und schon strömen die Kelkheimer herbei, um in ihrem Rathaus Dr. Frank Möller von der Universität Greifswald zu einem Thema zu hören, das ortstypischer kaum sein könnte: „Heinrich von Gagern – bürgerliches Idol der Revolution 1848/49“.

Einen trefflicheren Beweis für lebendige Geschichte, für das immer aktuelle Thema von Freiheit im nationalstaatlichen Rahmen und Demokratie lässt sich kaum denken – und der

Dozent am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Greifswald sollte dies mit nahezu jedem seiner Worte deutlicher herausarbeiten.

In drei Hauptabschnitte war sein Vortrag gegliedert: Heinrich von Gagern als Idol einer Generation, Wirkung und Bedeutung seines Charismas in der Revolution, und wie sich Persönlichkeit und politischer Einfluss dieses Gründervaters deutscher Demokratie miteinander verschränkten.

Heinrichs Werdegang

Wenn es um Heinrich von Gagern geht, ist Frank Möller kein unbeschriebenes Blatt, sondern der Biograf dieses wichtigen Wegbereiters der deutschen parlamentarischen Demokratie. Mag Möllers Habilitationsschrift „Heinrich von Gagern, eine Biografie“ einer stringent chronologischen Beschreibung dieses Lebens folgen, beleuchtete er bei seinem Vortrag kursorisch zentrale Aspekte und Abschnitte von Gagerns Werdegang. Zum Beispiel den prägenden Einfluss der Befreiungskriege gegen Napoleon, der mit seinen Truppen Europa überrannt hatte. Schon 1814, mit 15 Jahren, meldet sich Gagern als Freiwilliger und kämpft gar 1815 an der Seite der alliierten Truppen in der die napoleonische Epoche beendenden Schlacht von Waterloo. Nicht ohne Folgen für das Image, das sich über Gagern zu bilden begonnen hatte als eines Helden des deutschen Aufbruchs aus paternalistischer, feudaler Herrschaft zu Freiheit und Selbstbestimmung in demokratischer Verfassung.

Dabei entspricht Möller zufolge eine solche Heldengeschichte nicht der Realität. Es handele sich um einen Mythos, der Zukunftsperspektiven eröffnen sollte: Der Ausbruch aus napoleonischer Knechtschaft als ein weiterer Ausdruck dafür, wie sich eine heldenhafte Jugend, die sich von Fürsten um ihre Zukunft betrogen fühlt, ihre Freiheit erkämpft.

Zumindest stehe dem Pathos eines unbedingten Freiheitskampfes die Tatsache entgegen, dass Gagern 1820, nach dem Studium von Rechtswissenschaft und Philosophie eine Beamtenlaufbahn einschlägt. Nicht ohne seine „wilden 68er-Jahre“ durchlebt zu haben, zeitgemäß als damaliger Burschenschaftler mit langen Haaren und offenem Kragen, was sich explizit gegen das Erscheinungsbild einer „teutschen Tracht“ richten sollte. Wie überhaupt Burschenschaften damals für einen revolutionären Aufbruch standen, wie er von der aufbegehrenden Studentengeneration im vergangenen Jahrhundert für sich in Anspruch genommen wurde.

1828 heiratet Gagern Luise Freiin von Pretlack, seine große Liebe, wie Möller sagt. Doch keine drei Jahre später stirbt Luise. Der schwere Schicksalsschlag leitet eine Wende in Gagerns Leben ein, macht ihn, so Möller, wieder frei für die Oppositionspolitik. Er wird Landtagsabgeordneter im Großherzogtum Hessen. In dieser Zeit wohl verfestigt sich sein Bild von Rolle und Bedeutung von Parteien für die Entwicklung zu einer parlamentarischen Demokratie. 1833 wird er, der die liberal-oppositionelle Fraktion leitet, aus dem Staatsdienst entlassen und begibt sich in der weiteren Folge in so etwas wie „innere Emigration“ auf einem Hofgut im rheinhessischen Monsheim, das er zunächst pachtet, 1836 dann erwirbt.

Zeitgenössisches Bild

In Möllers Augen nimmt eine Heldengeschichte Gestalt an: Der Heros zieht sich zurück, um wiederzukehren. Mit der deutschen Revolution 1848 hat sich das Bild Gagerns als eines Protagonisten bürgerlicher Befreiung und Selbstbestimmung endgültig formiert. Woran die Ausstrahlung Gagerns erheblichen Anteil haben muss. Von Zeitgenossen wird sein Charisma gefeiert, er wird mit dem Beinamen „Der Edle“ tituliert. Auch deshalb, weil er als ideale Verbindung von Bürger und Adligem gilt – wie ein Zeitgenosse offenbar formulierte: „Als Bürger mit den Anhängern identisch, als Adliger den Anhängenden überlegen“. Ein zeitgenössisches Bild, das Möller an die Wand projiziert, zeigt ihn an einem Tisch stehend mitten unter den um ihn herumsitzenden Mitgliedern der „Casino-Fraktion“ in der Nationalversammlung, eine stattliche Erscheinung mit markantem Profil und in einer ihrer selbst gewissen Haltung und Ausstrahlung, die sich nicht zuletzt seiner Begabung als begnadeter Redner verdankte. Karl Biedermann, Leipziger Staatswissenschaftler und Philosoph, ebenfalls Mitglied der damaligen Nationalversammlung, schwärmte: „Wenn sein Auge unter den starken schwarzen Augenbrauen hervorblitzt, wenn er mit donnernder Stimme den Sturm der Leidenschaften in die Schranken der Ordnung weist, da gleicht er dem Jupiter, und willig fügt sich die Menge der imponierenden Erscheinung.“

Charakterstärke und Tugendhaftigkeit runden das Bild ab, wie Möller anhand eines weiteren Zitats aus Gagerns Umfeld zeigt: „So entspringen aus der gleichen Quelle die beneidetsten Tugenden des öffentlichen wie des Privatlebens, umgeben ihn dort mit dem Glanze der Hoheit, hier mit dem Scheine unnachahmlicher Liebenswürdigkeit. Im öffentlichen Leben ist er großmütig und edel, dabei stets mutig und kampflustig. Begierig, Unrecht abzuwehren, dem Rechte zum Siege zu verhelfen.“

Bei solcher Wucht der Erscheinung und der Kraft seiner Worte und ihrer die nationale Stimmung formierenden Wirkung habe Gagern die Revolutionspolitik gemäßigter Liberaler verkörpern können: den Einsatz von Gewalt zwar abzulehnen, aber verbunden mit einem Drohpotenzial von gewaltsamer Aktion, wenn die angestrebten Reformen von den überkommenen Obrigkeiten verhindert werden sollten.

In Gagerns Sicht auf die parlamentarische Demokratie, die durch die Auseinandersetzung von Parteien im Ringen um die besten Ideen für die Ausgestaltung der Demokratie und die Lösungen für aktuelle Probleme geprägt sei, zeige sich seine wahre, bleibende Größe, wie Norbert Lammert, damals Präsident des Deutschen Bundestags, bei einer Jubiläumsfeier des Frankfurter Heinrich-von-Gagern-Gymnasiums sagte: Denn „für die meisten seiner Zeitgenossen waren über jeden Zweifel erhaben, dass sich die nationale Einheit im Monarchen repräsentierte. Die Vorstellung, dass die Einheit eines Landes in einer Volksvertretung zum Ausdruck kommen könnte, war im wörtlichen Sinne revolutionär.“ Dann vor allem, wenn der Wettstreit der Ideen in der Institution der Parteiendemokratie ihr passendes Forum findet. Mit Gagerns Worten: „Da herrscht die vollkommenste Freiheit, wo die schwächste Partei, die Minorität, des ausgedehntesten Schutzes bei Oppositionsbewegungen teilhaftig wird.“ Mit anderen, Lammerts Worten: „Die Qualität eines politischen Systems ist nicht daran zu erkennen, dass regiert wird, sondern dass gegen Regierungen Widerspruch möglich ist und dass der Widerspruch organisiert wird. Und dass er in gewählten Parlamenten zum Ausdruck kommt. Und dass diese, die gewählten Vertreter eines Volkes, im Streit der Auffassungen und Meinungen das letzte Wort haben; genauer gesagt, das vorletzte, weil das scheinbar letzte immer nur so lange gilt, bis neue Mehrheiten anderes beschließen.“

Errungenschaft

Wie sehr sich die Demokratie hierzulande entwickelt hat, nicht zuletzt dank des Einsatzes von im Geist bürgerlichen Helden, auch wenn sie adliger Herkunft waren, mag sich daran ermessen, wie vertraut und selbstverständlich heutzutage erscheint, was damals eine revolutionäre Herausforderung der Obrigkeit war. Und die Erinnerung an Heinrich von Gagern und seine Zeitgenossen mag dazu beitragen, Freiheit und in funktionierende Regularien gefasste Demokratie als das zu begreifen, was sie immer sein werden: Errungenschaften, derer man sich gerne bedienen soll, aber im Bewusstsein, dass sie gepflegt und geschützt werden müssen.

Wohl auch in diesem Sinne dankte Adelheid von Gagern, die mit ihrem Mann Rüdiger von Gagern, einem Nachkommen Heinrich von Gagerns, an der Veranstaltung teilnahm, der Stadt Kelkheim und ihrer Bürgerschaft für die Pflege der Erinnerung an den berühmten Vorfahren und für den Einsatz für die Demokratie im Namen Gagerns.

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