­Ist Nachbarschaftshilfe eine mögliche Alternative angesichts einer halben Million fehlender Pflegekräfte?

Das Vorstandsteam des Altkönig-Stifts Boris Quasigroch (links) und Tatyana Kleinschmidt (rechts) verabschiedete zum Abschluss des zweiten Kronberger Genossenschaftstages die Politik-Talkrunde (von links) Landrat Ulrich Krebs, Patricia Peveling,

Moderator Professor Dr. Thomas Klie, Bernhard Schneider und Yanki Pürsün. Foto: Heide Klapper

Kronberg (pf) – „Wir brauchen eine Zeitenwende in der Pflege, wir hätten vor zwanzig Jahren beginnen müssen, aber wir haben die letzten Jahre verschwendet: Lösungen sind eher schwieriger geworden.“ Kordula Schulz-Asche, Bundestagsabgeordnete und pflegepolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen aus dem benachbarten Main-Taunus-Kreis, sparte in ihren Grußworten zum zweiten Kronberger Genossenschaftstag am Mittwoch vergangener Woche im Altkönig-Stift nicht mit Selbstkritik und Schuldzuweisungen an die Politik. Derzeit sei bereits jeder Fünfte in der Bundesrepublik über 65 Jahre alt, sagte sie. In wenigen Jahren werde es jeder Vierte sein. Gleichzeitig fehlten dann 500.000 Pflegekräfte.

In Kronberg, ergänzte Bürgermeister Christoph König, sei bereits jetzt jeder dritte Einwohner über 60 Jahre alt, also ein Drittel der Bevölkerung. Neben dem Ernst-Winterberg-Haus, der Seniorenwohnanlage der Stadt, zählte er die vier Pflegeeinrichtungen in der Burgstadt auf: das Seniorenstift Hohenwald der öffentlichen Stiftung Hospital zum Heiligen Geist, die nur dem Namen nach christlich sei, den privatwirtschaftlich geführten Rosenhof, das Kaiserin-Friedrich-Haus des gemeinnützigen Deutschen Roten Kreuzes und das genossenschaftliche Altkönig-Stift, die größte Seniorenanlage weit und breit. Eine marktwirtschaftliche Lösung des wachsenden Pflegebedarfs nach dem Motto „Wer macht es am billigsten, wie verdiene ich am meisten“, passe jedoch bei diesem Thema nicht, betonte er.

„Zeitenwende in der Pflege und die alte und neue Bedeutung des Genossenschaftsgedankens“ war Thema im ersten Teil des Genossenschaftstages. Rudolf Herfurth, Aufsichtsratsvorsitzender der Altkönig-Stift eG, erklärte in seinen Begrüßungsworten, dass es nach der Pandemie auch für das Altkönig-Stift keine Rückkehr in die Komfortzone gegeben habe. Die wirtschaftlichen Anspannungen hätten auch das Altkönig-Stift erreicht. Dennoch könne vielleicht der Genossenschaftstag helfen, Ideen weiterzureichen, damit auch andere Einrichtungen künftig besser zurecht kommen.

„Wir brauchen Perspektiven, die tragen“, bekräftigte Professor Dr. habil. Thomas Klie, als Leiter der Institute AGP (Alter Gesellschaft Partizipation), Sozialforschung und Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung einer der wichtigen Sozialexperten in Deutschland für die Themen Wohnen im Alter und die Frage, wie sorgen wir füreinander, der wie schon im November 2022 auch den zweiten Genossenschaftstag im Altkönig-Stift moderierte.

„Die Pflegekassen werden demnächst zahlungsunfähig“, sagte er. Die Bundesregierung könne angesichts der aktuellen politischen Lage künftig nicht mehr als Geldgeber einspringen. Da gewinne angesichts der Verletzlichkeit der Sorgenden und der Sorgebedürftigen im Alter der Genossenschaftsgedanke der Solidarität und der Hilfe auf Gegenseitigkeit immer mehr an Bedeutung. „Pflege gehört nicht zu den handelbaren Gütern, wir brauchen neue Bilder“, betonte er.

Anregungen zur ersten Talkrunde lieferte der Sozialwissenschaftler und geschäftsführende Direktor des Seminars für Genossenschaften an der Universität Köln, Professor Dr. Frank Schulz-Nieswandt mit seinem hoch interessanten Vortrag, eigentlich einer Vorlesung, über die alte und neue Bedeutung von Gemeinwirtschaft und Genossenschaften. Ihre Wurzeln reichen weit zurück in die vorchristliche Zeit, wurden praktiziert in Zünften und Männerbünden und leben fort in den heutigen Kibbuzen, den ländlichen Kollektivsiedlungen in Israel mit gemeinsamem Eigentum und basisdemokratischen Strukturen.

„Wie kriegen wir heute die Menschen zur Kooperation und zum sozialen Lernen statt zum Ich auf Kosten anderer“, fragte der Referent und gab später in der Talkrunde die Antwort: „Wir brauchen eine Kooperationskultur, eine Nachbarschaft, die sich gegenseitig hilft, Menschen, die für diese Idee brennen.“ Stattdessen berichtete Bürgermeister König von einer heute weit verbreiteten Konsumentenhaltung: die Stadt sei für alles, selbst eine verschwundene braune Tonne zuständig und werde sich schon darum kümmern.

Im zweiten Teil nach einem vom Küchenteam des Altkönig-Stifts gezauberten köstlichen Imbiss ging es um die Frage, welchen Nutzen eine Genossenschaft nicht nur für die dort Wohnenden, sondern auch für das Pflegepersonal und das Mitarbeiterteam hat. Bianca Jendrzej vom Kuratorium Wohnen im Alter (KWA), zwar keine Genossenschaft, aber eine gemeinnützige Aktiengesellschaft mit 14 Seniorenresidenzen und Pflegestiften vor allem im Süden Deutschlands, stellte ihr seit fünf Jahren erfolgreich praktiziertes Projekt zur Mitarbeitermotivierung vor. Denn Pflege könnte ein Traumberuf sein, so Professor Klie, wenn die Voraussetzungen stimmen.

Über ein ähnliches Projekt berichtete Tatyana Kleinschmidt, Vorstandsmitglied und Einrichtungsleiterin im Altkönig-Stift. Denn Stabilität, Kontinuität und Sicherheit für die Mitarbeitenden wirkten sich positiv auf das Wohlbefinden aller im Stift Wohnenden aus. „Ohne Freude und Anerkennung läuft nichts“, fasste Professor Klie zusammen. Wertschätzung und Anerkennung kommen Bewohnern und Mitarbeitenden gleichermaßen zugute, sorgen für eine Atmosphäre gegenseitiger Fürsorge, in der man sich mit Freude und Respekt begegnet. „Jeder im Haus ist wichtig!“, bekräftigte auch Ronny Koschnitzke, Betriebsratsvorsitzender im Altkönig-Stift, in der zweiten Talkrunde. „Wir müssen noch einige abholen“, meinte er schmunzelnd, „aber wir werden von Kollegen aus anderen Häusern beneidet, bei denen der Profit im Vordergrund steht.“

Wie wichtig Freude und ein Lächeln sind, betonte auch Patricia Peveling, Kreistagsabgeordnete von Bündnis 90/ Die Grünen, in der letzten Talkrunde, in der Vertreter aus den Kreis- und Landtagsfraktionen einen politischen Ausblick geben sollten, und meinte: „Wir brauchen Führung, aber keine Herrschaft.“ Die kommunale Familie sei nicht gut aufgestellt beim Thema häusliche Pflege, meinte ihr SPD-Kreistagskollege Bernhard Schneider. „Wir müssen neue Kooperationsmodelle entwickeln und vernetzt zusammenarbeiten“, regte er an.

Daseinsvorsorge sei Aufgabe der Kommunen und der Landkreise, sagte der FDP-Landtagsabgeordnete Yanki Pürsün, Sprecher seiner Fraktion für Soziales, Gesundheit und Integration. Lösungen für das Pflegeproblem konnte auch Landrat Ulrich Krebs nicht anbieten, der sich vor allem Sorgen um die Situation der Krankenhäuser im Kreis machte. Er plädierte dafür, das Königsteiner Krankenhaus mit dem Schwerpunkt Geriatrie weiter zu betreiben. Einig war sich die Runde, dass das Altkönig-Stift als Genossenschaft in vielerlei Hinsicht vorbildlich ist, nicht zuletzt auch wegen seiner Altkönig-Stiftung, die einspringt und hilft, wenn Bewohnerinnen und Bewohner in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Mit vielen Anregungen zum Nachdenken ging der zweite Kronberger Genossenschaftstag zu Ende.



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