Künstlerische Gesellschaft für Kronbergs Straßen – „Homemade Urban Art“ verhandelt über den öffentlichen Raum

Ausgebildeter Gymnasiallehrer und jetzt freischaffender Künstler und Kunstpädagoge: Simon Jung mit zwei Teilnehmern Fotos: Göllner

Kronberg (mg) – Wenn die eine oder der andere in den kommenden Tagen und Wochen einmal auf dem Berliner Platz in der Kronberger Stadtmitte steht und etwas Zeit und Müßiggang besitzt, dann könnte sie oder er – oder beide gemeinsam – mal einen kurzen Abstecher Richtung Victoriapark machen und bei dieser Gelegenheit aufmerksam das Straßenbild betrachten. Entlang der Bleichstraße, beginnend mit den niedrigen Hausnummern, an sich bereits an der Straßenkreuzung zur Frankfurter Straße, ist neue Kunst in der Kommune am Taunushang angebracht und angesagt. Im Rahmen des Kronberger Ferienprogramms haben elf Jugendliche unter Anleitung und Betreuung des freischaffenden Künstlers und Pädagogen Simon Jung an einigen Stellen im weitesten Sinne Bilder kreiert, die nun zum öffentlichen Raum gehören und diesen optisch beeinflussen. Gemeinsam mit seinem Kollegen Thomas Malsy hat der ehemalige Gymnasiallehrer Simon Jung, häufig in individueller Betreuung, einen zweitägigen Workshop für Heranwachsende abgehalten, die sich für diese Kunstform interessieren. Die gesprühten Kunstflecken, die nun vor Ort zustande kamen, spiegeln den Prozess wider, den die jungen Kronbergerinnen und Kronberger durchliefen. Nun haben sie etwas künstlerisch Nachhaltiges gestaltet. Es ist häufig nicht unwesentlich für die Kunst an sich, dass sie beständig bleibt und so Jahre und Jahrzehnte überdauert, obwohl sich vieles um sie herum verändert. Sie kommuniziert auf die ihr eigene Art und Weise Augenblicke, die zwar vergangen scheinen, dennoch stets präsent sind. Das kann helfen, sich zu erinnern. Nicht ganz unwichtig in immer schneller gewordenen und vermutlich noch rascher werdenden Zeiten, bei denen man den Eindruck bekommen kann, dass Zeit doch keine feste physikalische Größe ist, sondern immer schneller „davonrennt.“ Kunst bleibt jedoch – in jedem Fall in der Gedankenwelt der Menschen, die sich mit ihr beschäftigten.

Kunstform

Um was handelt es sich nun genau bei den Neuheiten in Kronberg? Ist es Graffiti oder Streetart? Was ist das eigentlich grundsätzlich? Viele Menschen haben stets viele verschiedene Meinungen zu einem einzelnen Thema – gerade dann, wenn Emotionen mit im Spiel sind, häufig genug flankiert von Haltungen, Lebenseinstellungen und Blickwinkeln auf die eigene Welt, gleichwohl auch die dahinter. In diesen Zusammenhängen entstehen unterschiedliche Begrifflichkeiten, die sich gerade in der Kunst selten dogmatisch festlegen lassen und zu kontroversen Diskussionen und Ansichten führen. Auch hier existiert ein Kosmos der Kreativen wie vielerorts, wenn mehr als zwei Menschen aufeinandertreffen, die um Deutungshoheit ringen. In jedem Fall kann man den Begriff „Urban Art“ für die Kunst nutzen, die nun auf Verteiler- und Stromkästen in Sichtweite des Casals Forums angebracht wurde und somit das triste Mausgrau der zweckdienlichen Boxen sowohl in Farbenfreude als auch inhaltliche Themen ummünzte. Künstlerisch Gestaltetes, das im städtischen Kontext entsteht. Geschichten werden erzählt, Synapsen werden beim Betrachten angeregt – es entsteht Austausch im öffentlichen Raum, der zuvor seitens der jungen Künstlerinnen und Künstler angeeignet wurde. Produktiver, zustimmender sowie kritischer. Das Wort ‚Graffiti‘ ist die Vielzahl des italienischen Graffito und beschreibt eine in harten Stein geritzte Zeichnung. Heute formuliert es den illegalen wie legalen Einsatz von Farbe auf Wänden und Mauern im öffentlichen Raum. „Sprayer“ benutzen einen Marker oder eine Sprühdose, um ihre Werke zu gestalten. Die Kunst aus der Dose enthält stets einen kreativen Ausdruck in Form von Signaturen („Tags“), Motiven und Figuren („Character“), politischen Parolen sowie Buchstabenaneinanderreihungen („Style“), die häufig lediglich für die sogenannte „Szene“ lesbar sind. Die ersten „Writer“, wie man sie im angelsächsischen Sprachraum nennt, brachten vermehrt Farbe in die zahlreichen graue Städte der Vereinigten Staaten von Amerika. Mittlerweile ist Graffiti eine globale künstlerische Erscheinung. Städte und Unternehmen beauftragen internationale Künstler, um gezielt Wandbilder, Kunstwerke oder Werbung für Produkte auf Fassaden im Bild der jeweiligen Stadt zu platzieren.

Die zuvorgenannte „Szene“ entwickelte aus diesem Grund eine eigene Sprache und die dazugehörigen Zeichen, um der Kommerzialisierung entgegenzuwirken und sich davon zu distanzieren. FoModernes Graffiti hat seine Wurzeln im New York der 1960er Jahre und steht oftmals im Zusammenhang mit der Hip-Hop-Kultur. Gleichzeitig ist Graffiti älter als diese, und nicht jeder „Sprayer“ hörte und hört automatisch Hip-Hop-Musik. Der erste medial erwähnte Graffiti-Künstler war der US-Amerikaner Darryl McCray „Cornbread“. Nach Europa kam Graffiti Anfang der 1980er Jahre. Die amerikanische Variante veränderte sich und verselbstständigte sich dort; der technisch komplexe 3D-Style wurde beispielsweise durch den deutschen Künstler „Daim“ ins Leben gerufen.

Simon Jung

Bereits seit dem Jahr 2021 führt Simon Jung im kunstpädagogischen Zusammenhang „Urban Art Workshops“ in Kronberg für Kinder und Jugendliche durch. Zunächst entstand der Kontakt über Simon Paluch, der damals noch für das Dekanat Kronberg arbeitete. Mittlerweile ist es Jugendkoordinator Mickey Wiese, der im steten Kontakt mit Jung ist. Das erste Projekt war die Umgestaltung einer Unterführung in Oberhöchstadt. Seitdem finden jährlich ein bis zwei graffitibezogene Workshops in der Kommune statt, mit regem Zuspruch und Anklang. Es hätte auch mehr als elf Jugendliche gegeben, die sich für den aktuellen Kurs interessierten – gleichwohl ist es wichtig, dass die Anzahl der jungen Menschen nicht größer ist als die Aufmerksamkeit, die man ihnen pädagogisch schenken kann. Nach dem Referendariat im Lehramt arbeitete Simon Jung mehrere Jahre im Schuldienst mit den Fächern Deutsch und Politik & Wirtschaft. Parallel dazu begann er ein Aufbaustudium im Fach Kunst an der Frankfurter Goethe Universität. Seit dem Jahr 2023 arbeitet der Kreative ausschließlich als freischaffender Künstler und Kunstpädagoge.

Persönliche Gründe für seine Entscheidung lagen in den größeren Freiheitsmomenten bei der Ausgestaltung der Projekte, die er nun stattfinden lässt. Er sieht darin die weitaus größere Möglichkeit, authentisch zu arbeiten und schätzt dabei, dass man mehr oder weniger augenblicklich Ergebnisse sieht und Rückmeldungen bekommt. Die Entscheidung scheint sich für ihn und seine Teilnehmer zu bewähren.

Der öffentliche Raum, legal und illegal

„Jedes illegal angebrachte Graffiti, jeder ,Tag’ (Schriftzug, Anmerkung der Redaktion) oder auch jedes komplexe Bild mit inhaltlicher Aussagekraft ist zunächst einmal politisch, da es den öffentlichen Raum gestaltet“, formuliert es Simon Jung gegenüber der Redaktion. Die andere Möglichkeit, sich den öffentlichen Raum anzueignen, sei es, diesen im Wirtschaftssystem der Marktwirtschaft zu kaufen, beispielsweise in Form von Werbeflächen. Über Werbung würde sich niemand beschweren, so Jung, da diese mittlerweile als Normalität empfunden würde, da offiziell gekauft. Der andere Weg sei – ohne Wertung und Bewertung –, dass man sich eine Sprühdose für vier Euro kaufe und die Fläche nach seinem Dafürhalten gestalte. Insofern sei jedes illegal angebrachte Graffiti nach Jung im öffentlichen Raum politisch, da in diesem Moment darüber verhandelt werde, wie der öffentliche Raum ausschauen solle und wer festlege, wie er auszusehen habe. Folglich handelt es sich bei der Verhandlungsmasse auch um Sozialkritisches und Weltbilder. An dieser Stelle taucht für den Redakteur erneut und einmal mehr das grundlegende Instrument einer Demokratie auf, der gangbare Kompromiss im Zusammenhang einer Meinungspluralität. So sind es Aktionen und Kurse, die die Kronberger Jugendarbeit ermöglicht, sich legal der „Urban Art“-Kunstform zu widmen und öffentlichen Raum zu beanspruchen, da die durch demokratische Prozesse indirekt zustande gekommene Exekutive in Form der Kronberger Stadtverwaltung aus einem „illegalen“ Stromkasten per Verwaltungsakt eine legale Kunstfläche macht. Durch maßvolle Abwägungsprozesse unter bestmöglicher Berücksichtigung aller existenter Belange und Bedürfnisse innerhalb einer Stadtgesellschaft. Das mag dem einen zu wenig Revolution sein, der anderen womöglich zu viel. Letztlich ist im Sinne des Kooperationsmodells von Charles Darwin die Möglichkeit einer gesamtgesellschaftlich zu akzeptierenden Variante des Miteinanders. Somit existiert durchaus auch die Ansicht, dass jedes „Urban Art“-Kunstwerk im öffentlichen Raum politisch ist, da es mittelbar im demokratischen Prozess und Sinn zustande gekommen ist. Die ausführende und demokratisch legitimierte Gewalt – Exekutive – des Staates gestaltet bestmöglich und versucht, sämtliche egozentrierte Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger unter einen gestalterischen „Hut“ zu bringen. Wenn man so möchte, auch eine Kunstform, denn es kann ab und an – je nach Stadtgesellschaft – die Quadratur des Kreises bedeuten. Man könnte es auch folgendermaßen sehen, so Simon Jung: „Man gibt den Jugendlichen auf diese Weise überhaupt erst einmal eine Möglichkeit, den öffentlichen Raum zu gestalten“. Schließlich seien Kinder und Jugendliche immer noch eine Gruppe der Gesellschaft, die am stärksten marginalisiert ist, will heißen, die Heranwachsenden finden im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen weiterhin weniger Beachtung. Konkret formuliert bedeuten solche Projekte mehr Teilhabe der Jugendlichen.

Rückmeldungen

Und so beschreibt auch Simon Jung gegenüber der Redaktion die direkten Reaktionen auf die besprühten Kunstflächen seitens der Bevölkerung: „Das ging von ‚Toll, super, dass ihr das macht‘ bis zu ‚Was soll das? Warum wurden wir nicht gefragt?‘“. Allerdings ist nicht bei jeder Maßnahme einer Kommunalverwaltung Bürgerbeteiligung umsetzbar, da dort jährlich Hunderte von Entscheidungen getroffen werden, um das Gemeinwesen und die Daseinsvorsorge mit Augenmaß umzusetzen. Logischerweise kann praktisch schlichtweg nicht jede und jeder jedes Mal gefragt werden – das Konzept der sogenannten repräsentativen Demokratie, das der Bundesrepublik Deutschland zugrunde liegt und im Grundgesetzt verankert ist.

Die internen Rückmeldungen durch die Jugendlichen, die am Projekt teilnahmen, waren wiederum ausnahmslos positiv. Selbst wenn einer der kreativen jungen Menschen am Ende nicht ganz glücklich mit seinem Werk war, so ist dies pädagogisch hinsichtlich der Persönlichkeitsbildung ebenso wichtig, denn auch Misserfolg will gelernt werden. Gleichzeitig liegt das bei Kunst nicht selten im Auge des Betrachters. Viele der Motivationen der Kinder und Jugendlichen waren persönlich geprägt. An sich eine zwangsläufige Konsequenz beim künstlerischen Ausdruck. Einer Teilnehmerin war sehr wichtig, einen Astronauten zu gestalten, eine andere wollte Strandleben abbilden und beschäftigte sich mit der Größe der ihr zur Verfügung stehenden Fläche, so dass es am Schluss „ein rundes Bild“ ergab. Ein weiterer Jugendlicher war sich unsicher ob des Inhalts, den er verewigen sollte. An dieser Stelle rieten ihm Jugendkoordinator Micky Wiese und Simon Jung zu einem starken Kronberg-Bezug. Und so schmückt nun einen Stromkasten die Kronberger Burg. Nun steht diese nicht über dem Ganzen thronend auf dem Hügel, sondern an der Straße vor der Hecke am Victoriapark.

Workshops und Informationen

Auf Simon Jungs digitaler Präsenz www.jungsimon.de ist zu lesen: „Der Graffiti-Kunst hängt nach wie vor der Ruf des Verbotenen und Geheimen an, weshalb sie insbesondere auf Kinder und Jugendliche besonderen Reiz ausübt. Mit Graffiti lassen sich aber auch zahlreiche positive Effekte erzielen. Legale Graffiti-Angebote sind eine ideale Möglichkeit, um den eigenen Nahraum zu gestalten, sich kreativ zu entfalten und damit verbunden Selbstwirksamkeit zu erfahren. In meinen Kunst- und Graffiti-Workshops lege ich neben der Vermittlung von handwerklichen und begrifflichen Grundlagen großen Wert darauf, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich selbst ausdrücken und eigene Ideen visualisieren können. Durch 20 Jahre Erfahrung im Graffiti und meine Ausbildung als Lehrkraft arrangiere ich die Kunst mit der nun Sprühdose und anderen Techniken in Lernsettings, die gestalterische Offenheit, Spaß und handlungsorientiertes Erleben bieten. Die Workshops sind fachwissenschaftlich fundiert, in verschiedenen Kontexten praktisch erprobt, werden kontinuierlich weiterentwickelt und an die jeweiligen Bedürfnisse der Lerngruppe angepasst.“ Wer nicht auf den nächsten „Urban Art“-Workshop in Kronberg warten möchte, kann auch direkt den Weg zu Simon Jungs Projekten wählen. Weitere Informationen sind auf der oben genannten Internetseite zu entdecken. Zu den kontinuierlich in Frankfurt am Main stattfindenden Kursen gelangt man bei Bedarf auch direkt über den Internetwegweiser www.jungsimon.de/infos-sundayspray.

Das „Sunday Spray“ ist ein offener Workshop, der immer am ersten Sonntag des Monats stattfindet. Er richtet sich an Einsteiger, aber auch an Fortgeschrittene, die die Welt des „Stylewritings“ und der Sprühdose kennenlernen und besser verstehen wollen.

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