Außergewöhnlich fantasievoll

Bad Homburg (agl). Ein regnerischer Abend zur Buchmessezeit in Frankfurt. Die St.-Marien-Kirche ist rappelvoll. Großer Auftritt mit rotem Seidenschal und 20er-Jahre-Anzug. Halb acht. Da kommt er, leicht verschmitzt, gut drauf: Ulrich Tukur. Drei Jahre hat er an seinem Buch geschrieben. Er erzählt von seinem Vorschuss des Fischer Verlags, als er dort zehn Seiten Manuskript eingereicht hatte. Nachdem der ausgegeben war, gab es kein Zurück mehr. Er musste liefern und den Roman zu Ende schreiben.

Sein Text „Der Ursprung der Welt“ spielt in den 30er-Jahren des 21. Jahrhunderts. Der türkische Präsident ist tot. Und Tukurs Protagonist Paul auf dem Weg zum Louvre. Er liebt es, sich mit den Bildern wegzuträumen, sich zu verlieren. Das nimmt die Schwere von seiner Seele, berichtet der Schauspieler, der unter die Romanciers gegangen ist. Aha, denkt sich da der geneigte Leser. Das möchte man auch mal haben. Ab ins Städel nach Frankfurt oder ins Sinclair-Haus und auf die Bilder geblickt. Und mit einem Mal scheint einem das eigene Leben ganz geheimnis- und erwartungsvoll entgegen. Bei Tukur funktioniert es. Und die aufmerksamen, vorwiegend weiblichen Zuhörerinnen sind hingerissen vom Ton, von der Fantasie Tukurs und hören mehr als gern zu. Vornübergebeugt, das Kinn auf der Faust aufgestützt, und alles andere verliert an Bedeutung.

Martina Bollinger von der Buchhandlung Supp’s ist es zu verdanken, dass Bad Homburg eine solch erfolgreich besuchte Lesung, noch dazu an einem ungewöhnlichen Ort anbietet. Tukur spart nicht mit Höhepunkten. Der französische Staatspräsident wird Opfer eines Anschlags. Der Franc wird wieder eingeführt, doch warum dann auch noch sein Romanheld Paul am Port-Vendres in Südfrankreich ganz in der Nähe von Perpignan auf einen Wirt namens Lucien trifft, süßen Wein trinkt, einer Frau mit verschmiertem Lippenstift begegnet und zu allem Überfluss auch noch an ein Bild erinnert wird, das mit „Der Ursprung der Welt“ betitelt ist, bleibt offen.

Fest steht, Tukur liest fesselnd und ist dabei ganz bei sich, sodass die Besucher gebannt zuhören. Das gelingt ihm als Schauspieler beiläufiger und selbstverständlicher als jedem Schriftsteller, dem die Leichtigkeit in Stimme und Mimik von Berufs wegen nicht antrainiert wurde. Doch wie Tukur an diesem Abend selbst ganz offen zugibt, fehlte ihm hier und da die Eingebung. Er entschied sich schließlich auf eine reale Geschichte zurückzugreifen, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging:

Fritz Wunderlich, ein begnadeter Tenor, der mit 36 Jahren am Anfang seines Weltruhms stand und am Vorabend seiner Übersiedelung nach New York in einem Jagdhaus bei einem Abschiedsfest mit Freunden tragisch und völlig unerwartet verstarb, war ihm Inspirationsquelle, plaudert der Schauspieler im Party-Smalltalk-Ton weiter. Was bleibt? Der Abend war außergewöhnlich. Außergewöhnlich verregnet, ungewöhnlich fantasievoll.

Der Autor Ulrich Tukur liest aus seinem Text „Der Ursprung der Welt“. Foto: agl



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