„Wir behandeln keine Krankheiten, sondern Menschen“

In seiner Wahlheimat Bad Homburg fühlt sich Professor Dr. Kartik G. Krishnan wohl: Medizinische Einsätze führen den erfahrenen Neurochirurgen um die ganze Welt, und die Leidenschaft für sein Fachgebiet führte zu zahlreichen Auszeichnungen wie im Juni bei Fokus zur Wahl des „Top Mediziners 2022“ – die Leidenschaft für das menschliche Handeln in seinem Beruf ist für den indischstämmigen Arzt dabei elementar. Foto: a.ber

Bad Homburg (a.ber). Im Tschetschenien-Krieg 1995 operierte er tags wie nachts in einem Krankenhaus in Grosny schwer verwundete Menschen, denen durch Bomben und Patronen Gliedmaßen abgetrennt und zerfetzt worden waren, kämpfte dort mit mangelhafter medizinischer Ausstattung um Menschenleben.

Im März 2022 stand er einem ungarischen Ärzteteam mit Rat und Tat zur Seite, als die Operateure in Dhaka in Bangladesh zwei am Kopf zusammengewachsene kleine Mädchen, Siamesische Zwillinge, trennten, wo es auf jedes kleinste neurochirurgische Detail und medizintechnisch gestützte Feinmotorik ankam. Zwischen den ersten Erlebnissen als junger Arzt mit 25 Jahren und dem jüngsten Erfolg eines hochkomplizierten chirurgischen Eingriffs liegen Welten. Welten, die der in Bad Homburg lebende Neurochirurg Professor Dr. Kartik G. Krishnan in seinem eigenen Berufsbild als Arzt zusammendenken kann.

Denn die Konstanten seines beruflichen Lebens, das den 1970 im südindischen Madras geborenen Krishnan nach dem Medizinstudium in seiner Heimat über Stationen in Russland, Deutschland, Südafrika und den USA zu einem der gefragtesten Ärzte weltweit für operative Eingriffe am zentralen und peripheren Nervensystem hat werden lassen, diese Konstanten waren, so sagt er im Gespräch, von Anfang an da und sind es noch immer: Wissensdurst und Leidenschaft für sein Fachgebiet und Mut, schwierige medizinische Herausforderungen als Arzt einfach anzunehmen und als Mensch mit dem Patienten durchzustehen.

Vielleicht ist es bei der ärztlichen Behandlung von Menschen wie bei der Musik, die der 51-jährige Mediziner, der mit einer russischstämmigen Künstlerin verheiratet ist und drei Kinder hat, so gerne auf seiner indischen Langhals-Laute, der Veena, im Familienkreis macht, wenn er einmal Zeit und Muße hat: Wer musiziert, bedient sich eines Instruments und alterprobter Techniken und Notenschriften – doch er betritt im Musizieren mit wachem Verstand und Herzen jedes Mal Neuland, weil Töne nie einfach reproduzierbar sind, nie gleich klingen, ein eigenes Leben haben, wie Menschen eben.

„Wir müssen immer beobachten, wie es ist, was passiert“, beschreibt Kartik Krishnan seine Arbeitshaltung. Schon der gerade examinierte Medizinstudent bekam 1995 von seinem Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität einen „Instrumentenkoffer“ in die Hand gedrückt, der ihn und weitere junge Kollegen – bei aller Sorgfalt einer wenige Wochen dauernden Labor- und OP-Ausbildung – nur unzureichend ausrüstete für das, was Krishnan im tschetschenischen Grosny dann zu bewältigen hatte. „Mit alten Verbandsscheren, fehlendem Einmal-Material und wenig Know-how standen wir stundenlang im Städtischen Krankenhaus vor Menschen mit klaffenden Wunden, abgetrennten Gliedmaßen und dachten nur: Wie kriege ich das jetzt zu, wie kann ich die Blutung stillen?“, erinnert er sich.

„Da tickt man auf einmal anders, man fokussiert sich auf eine mögliche Lösung, eine blitzschnelle Entscheidung und operiert mit dem, was da ist.“ Anfängliche Abenteuerlust habe sich bei ihm damals in Grosny schnell zur Frage gewandelt, „wie man im Chaos Mensch bleibt und mit Rückschlägen als operierender Arzt psychisch zurechtkommt.“ Die gesammelte Erfahrung brachte den Sohn eines Professors für Biochemie in Madras dazu, bei Studienaufenthalten in Moskau, Südafrika und als Fullbright-Stipendiat in Los Angeles die Laufbahn als Chirurg zu verfolgen. Er lernte außer seinen Muttersprachen Tamil und Englisch auch fließend Russisch und Deutsch.

Im Jahr 2000 promovierte Kartik Krishnan in Plastischer Chirurgie in München und absolvierte dann die Ausbildung zum Facharzt für Neurochirurgie, worin er sich mit 38 Jahren habilitierte. Zuerst Oberarzt der Neurochirurgie an der Uniklinik Frankfurt am Main, danach Leitender Oberarzt in Gießen, arbeitet Krishnan seit 2017 als Leiter der Neurochirurgie am Krankenhaus der Kliniken des Main-Taunus-Kreises in Bad Soden.

„Große Neugier“ bei der Zusammenarbeit mit erfahrenen Mediziner-Kollegen wie dem früheren Münchner Neurochirurgen Professor Peter A.Winkler habe er immer gehabt. Dabei ist der soeben Anfang Juni vom Fokus als „Top Mediziner 2022“ ausgezeichnete Kartik Krishnan auch offen für Inspirationen unkonventioneller Art: Im Dresdner Zoo operierte er auf Wunsch von Kollegen einen verhaltensgestörten Affen, der einen Hirntumor hatte; schon bei seiner Forschungsarbeit zur Habilitation hatte sich Krishnan mit dem Lurch Axolotl, dem abgetrennte Gliedmaßen und Organe nachwachsen, und der Möglichkeit beschäftigt, diese Zelleigenschaften des Wiederwachsens, die auch beim Menschen vorhanden sind, zur Regenerierung verletzter Nerven bei Querschnittslähmung zu nutzen. Gerne schaut er heute Kollegen in Bangladesh oder Südamerika über die Schulter. „Hier erlebe ich Operationen von riesengroßen Hirntumoren, die wir wegen unserer medizinischen Vorsorge in Deutschland nie sehen würden. Der Erfahrungsschatz der Kollegen dort mit großen Hirnoperationen ist enorm.“

Für die am Kopf zusammengewachsenen Siamesischen Zwillinge, ein sehr seltenes Vorkommen, aber brachte Professor Krishnan gemeinsam mit einem Operationsteam freiwilliger Ärzte von „Interplast Hungary Group“ seine Spezialkenntnisse mit nach Dhaka: In mehreren Operationen wurden die kleinen Mädchen getrennt, Kartik Krishnan reist immer wieder zu Nachuntersuchungen nach Bangladesh. „Rabeya, der eine Zwilling, ist erfolgreich auf dem Weg der Genesung, das zweite Mädchen ist schwer behindert“, erzählt er.

Der Arzt blickt nachdenklich, als wir auf das Thema Sterben und Tod und die „Machbarkeit“ von Gesundheit zu sprechen kommen. Nicht nur das Arbeiten des medizinischen Personals an deutschen Kliniken nach Dienstplan und Uhr ist dem in Indien Aufgewachsenen irgendwie fremd geblieben: „Manchmal wechselt die Schicht hier mitten während einer Operation, der Arzt macht weiter“, sagt er. Bewerten wolle er das nicht. Aber Professor Krishnan ist ein genauer Beobachter, auch in Zeiten von Corona in seinem Krankenhaus. Ein Patient mit Querschnittslähmung habe da tagelang an die Wand gestarrt, weil nach Hygieneverordnung kein Besuch der Angehörigen möglich gewesen sei. „Da sind wir Ärzte als Menschen gefragt, müssen den Kranken häufig aufsuchen, Angehörigen per Telefon ausführlich berichten, uns Zeit nehmen, reden und trösten. Wir sind nicht nur ‚Super-Operateure‘, wir müssen mit dem Herzen dabei sein – denn wir behandeln keine Krankheiten, sondern Menschen!“

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