Das Evangelium mit dem Herzen gehört

Bad Homburg (aks). Wer abseits von bunter Osterdekoration und Hefezopfrezepten nach echter österlicher innerer Einkehr und ein paar Stunden Trost von krisenhaften Zeiten suchte, der wurde am Sonntagnachmittag in der Erlöserkirche mit Bachs Matthäus Passion, die alle Sinne berührte, glücklich.

Die Erlöserkirche im neobyzantinischen Stil, auch Bad Homburger Hagia Sophia genannt, ist die evangelische Hauptkirche der Kurstadt und zugleich das am besten erhaltene Zeugnis zum Kirchbauprogramm Kaiser Wilhelms II. Es ist seit langem Brauch, dass in der Erlöserkirche am Karfreitag alle zwei Jahre im Wechsel eine der großen Passionsmusiken aufgeführt wird. Nach der Johannespassion 2023 war dieses Jahr also die Leidensgeschichte Christi nach dem Evangelisten Matthäus zu hören, die vor fast 300 Jahren 1927 in der Leipziger Thomaskirche am Karfreitag zum ersten Mal erklang.

Die Matthäuspassion ist das umfangreichste Werk Bachs, gewaltig und sinnlich. Tiefe Traurigkeit, donnernder Groll, hasserfüllte, fast dissonante Töne und vor allem tröstliche Weisen beruhigen und erschrecken gleichermaßen. Weghören geht nicht bei der eindringlichen Schilderung der Qualen Jesus, der Gottes höchsten Plan erfüllt. Auf dass die Prophezeiung erfüllt werde, wird jeder Protagonist genau das tun, was Gott von ihm erwartet: Judas ist der Verräter, Petrus verleugnet seinen Herrn und die Jünger laufen voller Angst davon. Eine glückliche Wendung ist nicht beabsichtigt, und so verurteilen Hohepriester und das Volk, Jesus von Nazareth, Christus, den Sohn Gottes zum Tode, damit den Menschen ihre Sünden verziehen werden – allen Menschen! Das ist im Kern die spektakuläre Frohe Botschaft des Osterfests, trotz des grausigen Todes am Kreuz eines unschuldigen Menschen. Auch wer sich vom Christentum entfernt hat, viele der trostreichen Botschaften vergessen und verlernt hat, der hört hier das Evangelium – distanzlos, direkt mit dem Herzen dank der überwältigend schönen Musik von Johann Sebastian Bach in einer herrlichen Symbiose aller Akteure. Der große Bachchor, gegründet 1908, mit über 100 Sängerinnen und Sänger bringt mit dem Kinder- und Jugendensemble die Kirchenbasilika mit den goldenen Mosaik-Steinchen zum Funkeln und Leuchten, so ausdrucksvoll ist der Gesang. Unter der Leitung von Kantorin Susanne Rohn, die mit zarten, aber intensiven Gesten, auch das Barockorchester La Tirata aus Frankfurt zu einem flotten Tempo anleitet, entsteht ein hoch dramatisches Trauerspiel, das von Liebe und Leid, Hass, Gewalt und Vernichtung erzählt.

Auch die hochkarätigen Solisten stimmen die Kirchgänger mit hoch emotionalen Arien auf das leidvolle Sterben Christi ein. Die warme Stimme der bekannten und beliebten Kronberger Mezzosopranistin Britta Jacobus, engelsgleich, spendet Trost, begleitet von der Sopranistin Antonia Bourvé mit ihrem zarten Timbre und ihren in höchsten Tönen mahnenden Arien. Großartig und voller Energie überrascht der junge amerikanische Tenor Michael Porter, Mitglied der Frankfurter Oper, mit strahlendem Belcanto und ebenso klarer Ansprache als Erzähler. Drei Stunden lang führt er standhaft als Evangelist durch die Handlung und hält den Spannungsbogen maximal aufrecht – eine Meisterleistung. Ermüdungserscheinungen sind auch dem jugendlich frischen Bassbariton Pete Thanapat nicht anzumerken, der die emotionalsten Bassarien mit einer Reinheit und Verve singt, die durch Mark und Bein gehen. Er verkörpert wahrhaftig die Schuldgefühle und die Verzweiflung von Judas, Petrus und Pilatus, die als „Verräter“ Jesus Tod verantworten müssen bzw. Gottes Masterplan in die Tat umsetzten. Voller Angst und Verzweiflung ist auch Jesus, die er nicht preisgeben will, in feiner Zurückhaltung gesungen vom Hamburger Bariton Hans Christoph Begemann. Die stille Bitte, ob Gott sein schweres Los noch wenden könne, rührt die Menschen damals wie heute. Bachs Musik verschafft sich ungehinderten Zugang zu den Herzen und weckt die Hoffnung, dass nicht das Unrecht siegt, wenn jeder Gläubige seinen Teil dazu beiträgt, damit Vergebung und die Liebe Gottes siegen.

„Ruhe sanfte, sanfte Ruh!“ Mit diesem Wunsch nach ewigem Frieden endet der Choral. Die Menschen in der Kirche bleiben noch eine Weile schweigend sitzend, wie es scheint zutiefst berührt und lauschen den Kirchenglocken, dem Ruf nach dem Leben. So wunderbar innerlich geläutert kann Ostern jetzt kommen: „Mache dich mein Herze rein!“

Der Bachchor der Erlöserkirche, das Kinder- und Jugendensemble von „LaCappella“ mit dem Barockorchester „La Tirata“ unter der Leitung von Kantorin Susanne Rohn erfüllt die funkelnde Erlöserkirche mit Bachs gewaltiger Passion Christi. Foto: sura



X