Bad Homburg (a.ber). „Man muss wagen, auch neue Wege zu gehen. Aber wir müssen es als protestantische Kirche nicht allen recht machen, sondern bei unserer Identität bleiben und nicht das verkündigen, was wir in den Nachrichten am Abend zuvor schon gehört haben.“ So die renommierte Kirchenhistorikerin Prof. Dr. Dr. h.c. Irene Dingel in ihrem Vortrag „Kirche der Reformation – Kirche der Zukunft“. Im ersten von drei Vorträgen einer Reihe, zur der die Evangelische Kirchengemeinde Bad Homburg-Gonzenheim unter dem Titel „Kirche der Zukunft. Welche Chancen bergen Reform(ations)-Prozesse heute. Ein theologischer Blick“ in diesem Winter einlädt, beschäftigte sich die Mainzer Theologie-Professorin mit den Grundlagen reformatorischer Entwicklung von Gemeinde im 16. Jahrhundert. Martin Luther stand im Fokus. Und im Anschluss wurde lebhaft und kontrovers diskutiert: Über Ämterhierarchie, Autorität und protestantische Freiheit gegenüber der damaligen und heutigen Kirchenverwaltung und -ordnung, über Definition und Inhalte von „Gemeinde“ und „Kirche“, den Sinn und Schaden von kirchlichen Institutionen und Strukturen und deren Gewichtung.
„Wir beschäftigen uns derzeit in Gremien, manchmal auch unschön, mit Entscheidungen, Zahlen, Gebäuden und Einsparungen. Die evangelischen Kirchen hier im Dekanat Hochtaunus sollen sich zu Nachbarschaftsräumen zusammenschließen – aber was liegt uns wirklich am Herzen in unserer Kirche? Was trägt uns als Gemeinde seit Jahrhunderten, was schleifen wir mit und was haben wir schon losgelassen?“, fragte die Initiatorin der Vortragsreihe, die angehende Pfarrerin Anna-Lena Krieg. Krieg absolviert zurzeit ihre praktische Ausbildung in der Gonzenheimer Kirchengemeinde. Und obwohl in der Ankündigung der Vortragsreihe, in der drei bekannte Theologen Gedanken über Reform- und Umstrukturierungsprozesse anhand der protestantischen Reformation der Kirche durch Martin Luther im 16. Jahrhundert äußern, die „Chancen dieser Prozesse und die positiven Seiten der Veränderung“ betont wurden – es wurden auch Skepsis und Kritik unter den anwesenden Zuhörern über den laufenden Prozess „EKHN 2030“ laut.
„Martin Luther hat mit seiner Kritik an der katholischen Kirche, am Primat des Papstes und der Irrtumslosigkeit von Synoden damals nicht bei Gebäuden und Ämterstrukturen angesetzt. Er stellt die Kirche – ‚Kirche‘ mied Luther als Wort – auch nicht als Institution generell in Frage. Aber Kirche ist für den Reformator der Ort, an dem die Begegnung mit Christus möglich ist, Kirche ist die persönliche Heimat des Einzelnen.“ Sichtbar als „der Haufen christgläubiger Leute“, werde sie nach Luthers Ansicht „durch das Wort Gottes ins Leben gerufen, nicht durch eigene Konstitution“, so die 1956 geborene Kirchenhistorikerin Irene Dingel, Senior-Forschungsprofessorin an der Gutenberguniversität und der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz für Geschichte der Reformation und des konfessionellen Zeitalters.
Luther habe nicht primär bei der strukturellen Reformation der Kirche angesetzt. Sein Ausgang seien theologische Überlegungen gewesen: die Bibel, Gottes Wort, als die oberste Autorität – „solus scriptura“ – und Jesus allein als Mittler zwischen Gott und Mensch – „solus Christus“ – sowie die Gnadenzusage Gottes in Predigt, Taufe und Abendmahl hätten zu harter Kritik von Wittenberg aus an den Herrschenden der römischen Kirche geführt. Prof. Dingel machte deutlich: Martin Luther hielt die Ämterführung von Bischöfen, Pfarrern und einer „frommen“ weltlichen Obrigkeit im 16. Jahrhundert als „gute Ordnung“ für notwendig, um im Diesseits miteinander bestehen zu können; ein theologisches Regelwerk, Visitationen von Gemeinden und Kirchenordnungen, die sinnvolle Verwendung von Geldern ebenso. „Aber eine hierarchische Abstufung zwischen den Ämtern hat er dabei abgelehnt.“ Predigt und Sakramentsverwaltung, „das schöpferische Wort Gottes: daraus schöpft die Kirche nach Luther auch ihre Gestalt“, so Dingel. Liturgie, Zeremonien und Traditionen hätten der Reformator und seine Mitstreiter als verhandelbar angesehen. Als Begegnungsort der Menschen mit Gott und seinem Wort habe die Kirche „Gemeinschaftscharakter“ – nicht unbedingt an einen lokalen Ort gebunden. „Aber die Kirche blieb in der Reformation trotzdem ‚im Dorf‘, und das viele Jahrhunderte, bis durch zunehmende Mobilität der Menschen und die Arbeitsmigration im 19. Jahrhundert Gemeinde ihre Funktion als ‚Lebenszentrum‘ vor Ort langsam verlor.“ Doch über eine Verschiebung von Gemeindegrenzen und -strukturen hätten sich die Reformatoren nie Gedanken gemacht“, sagte die Kirchenhistorikerin.
In der dem Vortrag folgenden Diskussion standen Fragen und Sorgen von Christen aus Bad Homburg und umliegenden Kirchengemeinden im Mittelpunkt. Von Orientierung und sicherem Rahmen im Leben der einzelnen Orts-Gemeinden war die Rede; vom Klammern an Strukturen und Befürchtungen, die evangelische Kirche insgesamt verliere durch den von der Synode der hessen-nassauischen Kirche bereits beschlossenen Umstrukturierungsprozess und dessen „autoritärer Umsetzung in den Einzelgemeinden“ – wie ein Zuhörer sagte – an Einfluss in der Gesamtgesellschaft und verliere Ressourcen und Mitglieder. „Wir sind über Generationen hinweg in Strukturen aufgewachsen, die uns Identität verleihen als Menschen, die an bestimmte Gemeinschaften vor Ort gebunden sind“, so Dingel. „Deshalb sollten theologische Inhalte den Veränderungsprozess bestimmen: Kirche bleibt im Dorf – aber lässt sie sich mitziehen in eine neue Theologie hinein?“ Einige der Anwesenden sahen aber genau dieses Denken von Inhalten aus gerade nicht in den laufenden Strukturprozessen: Ökonomie und Verwaltungsfragen stünden doch im Mittelpunkt für die Leitungsgremien der EKHN. „In einer so unsicheren Zeit wie heute werden aber Halt und Hoffnung gesucht, auf den persönlichen Einsatz von uns Christen vor Ort kommt es doch an, darauf, mit spezifisch christlichen Inhalten wieder mehr sichtbar zu werden“, hieß es kritisch. Und sei die evangelische Kirche noch eine Kirche der Freiheit, in der „mit Mut unsere Identität klar benannt wird: Warum heißen wir eigentlich ‚Protestanten‘?“ Habe nicht der Lauf der Dinge die evangelische Kirche auch wieder zu einer Autoritäten-Kirche gemacht? Gebe es auch Irrwege, in denen das befreite Individuum nach Luther der Obrigkeit auch widerstehen muss?
Es ist der jungen Vikarin Anna-Lena Krieg zu verdanken, dass mit dieser Vortragsreihe Raum geschaffen wird – jenseits von bereits längst laufenden und an die evangelischen Gemeindeglieder durch die Kirchenverwaltung oft nur noch kommunizierten und nicht ergebnisoffen vorher diskutierten Reformprozessen: Raum zum offenen Miteinander-Ringen über Notwendigkeiten und Sinn und zeitliche Perspektiven einer Veränderung, die erheblich in das Leben der Christen vor Ort eingreifen wird. Ein weiterer Vortrag der Reihe „Kirche der Zukunft“ finden am Dienstag, 21. Januar 2025, statt (der Professor für Systematische Theologie, Dr. Christian Neddens, spricht über „Was Kirche alles nicht ist! Das Erneuerungspotential der reformatorischen Bekenntnisse“). Die Versanstaltung beginnt um 19.30 Uhr im Gemeindehaus der evangelischen Kirchengemeinde Gonzenheim, Kirchgasse 3. Der Eintritt ist frei.