Interesse an den „unendlich vielen Ungereimtheiten“

Freut sich auf Gäste in seiner Bürgersprechstunde: der Bad Homburger Stadtschreiber Peter Henning. Foto: js

Bad Homburg (js). Herr Henning gibt sich die Ehre. Diesmal in der Stadtbibliothek, also mittendrin in der City. In der Straße, die sie hier vor ein paar Jahren zur „Kulturmeile“ umgetauft haben. Keine Degradierung, weil er bei seinem ersten öffentlichen Auftritt in der Villa Wertheimber doch ein wenig heftig über die Deutsche Bank hergezogen hatte. Angeblich sogar vom „Drecksladen“ gesprochen haben soll im noblen Kaminzimmer der Villa, in der er für zwei Monate zu Gast ist. Der erste „Stadtschreiber“, den sich Bad Homburg im Hölderlin-Jahr zu dessen 250. Geburtstag leistet.

„Ganz wunderbar“ gefällt es ihm da, in seiner temporären Wohnung im Obergeschoss der Villa, mit den Wiesen und Feldern vor dem Fenster, ein Traum für den Hobby-Entomologen mit dem Faible für schöne stille Flatterwesen. Ganz anders Peter Henning, der nicht nur in seinen Texten, auch im gesprochenen Wort flott bei der Sache ist. Ohne Punkt und Komma könnte er sprechen, wenn ihn etwas begeistert oder er von sich und seinen Themen begeistert ist.

Mit Homburgs Kultur-Fachbereichsleiterin Bettina Gentzcke versteht sich Peter Henning immer noch gut, trotz des leisen Ordnungsrufs im Kaminzimmer. Man will ja die Literaturfreunde nicht verschrecken. Halb ist die Zeit für den Stadtschreiber schon fast rum im Hölderlin-Kabinett der Villa. Gerne würde dieser länger bleiben, er sei großartig aufgenommen worden, sagt er. „Zwei Wochen mehr haben wir rausgeholt“, bekennt die Kulturchefin vor knappem Publikum in Corona-Zeiten. Tatsächlich sind sogar ein paar Plätze freigeblieben, großräumig verteilt die Stühle im lichten Foyer der Bibliothek. Das Publikum ist aufmerksam, Peter Henning spart beim Schnelldurchlauf entlang seiner Biografie auch dunkle Flecke nicht aus. Die Familie, der „große Segen“ und gleichzeitig der „vollkommene Fluch“ etwa. Vielleicht hat ihn das zum Verfasser von Gesellschaftsromanen gemacht.

Das stellt er gleich klar: Er ist nicht hier, um die Geschichte des Attentats auf Alfred Herrhausen, mit dem er sich in seinem aktuellen Buch beschäftigt, als Dokumentarist neu zu schreiben. Eher ein rasanter Deutschland-Roman soll es werden, ein Buch über die alte Bundesrepublik zwischen RAF, Auflösung der DDR und Großbanken-Kapitalismus, den einer seiner Protagonisten als „Schweinesystem“ bezeichnet. In „Das Ende der Benommenheit“ geht es um Spurensuche, zwei Brüder und den Zusammenbruch einer Familie über den damaligen Ereignissen. Was es denn mit der Benommenheit auf sich habe, fragt eine Frau im Publikum nach 45 Minuten Lesung mit drei rasant von Peter Henning fast ohne Versprecher vorgetragenen nicht zusammenhängenden Kapiteln.

Ein Vierteljahrhundert und 11 500 Kilometer liegen zwischen der Flucht des einen Bruders, der als Terrorist und möglicher Mörder verdächtigt wird und sich damals nach Buenos Aires absetzte. Und jetzt? Nach 25 Jahren Benommenheit und Verdrängen unliebsamer Wahrheiten sehen alle klar. Die Frage ist doch: „Wann erwache ich aus dem Wachen?“ Sagt Peter Henning. Da hofft er mit Blick auf seinen neuen Roman auch auf Mithilfe. Auch ohne die Geschichte des Herrhausen-Attentats neu zu schreiben, hofft er ein bisschen klarer zu sehen nach den Bad Homburger Tagen.

Als Memory-Spieler mit vielen Puzzleteilen sieht sich der 61-jährige gebürtige Hanauer da. „Mich interessieren die unendlich vielen Ungereimtheiten“, sagt er, die Puzzleteile ergeben für ihn kein stimmiges Bild. Vor allem die „unendlich langen acht Minuten“, in denen niemand dem sterbenden Banker in der Luxuslimousine nach der Explosion zu Hilfe kam. Da nicken mehrere ältere Herren im Publikum, einer war fast Tatzeuge. Herrhausen und die Feinde im eigenen Haus, ist es das?

Spekuliert wird nicht, aber Peter Henning hat unendlichen Redebedarf. Ja, Traudl Herrhausen, die Ehefrau des Ermordeten, würde er schon gerne treffen. Aber er will nicht drängen, da hofft er eher auf ein Entgegenkommen. „Lassen Sie uns ins Gespräch kommen!“, hat er ein Anschreiben an die Bad Homburger Bürger übertitelt. „Scheuen Sie sich nicht, suchen Sie den Kontakt zu mir! Kommen Sie auf mich zu! Auf jede noch so kurze Begegnung mit Ihnen freue ich mich!“

Zur Bürgersprechstunde bittet Peter Henning dienstags von 14 bis 16 Uhr im Foyer der Villa Wertheimber. Am Tag vor der Lesung seien sieben Gäste zu Besuch gewesen, darunter eine Art Kronzeugin, die Christian Klar nach dem Attentat in Frankfurt gesehen haben will. Einen „Glücksfall“ nennt Peter Henning das „große Mitteilungsbedürfnis“ der Menschen in der Kurstadt.

!Eine Anmeldung zur Sprechstunde ist per E-Mail an stadtarchiv[at]bad-homburg[dot]de möglich.



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