Das Jahr des magischen Denkens

Die Frankfurter Schauspielerin Anke Sevenich leiht Mutter Joan Didion ihre Stimme, um die tragische Geschichte ihrer Tochter Quintana zu erzählen. Foto: fch

Bad Homburg (fch). Zu einer besonderen Lesung hatte der Bad Homburger Hospiz-Dienst seine 400 Mitglieder und alle interessierten Bürger in die Englische Kirche eingeladen. Vorsitzender Dr. Hans-Jörg Todt begrüßte etliche der 400 Mitglieder des in Bad Homburg und dem Usinger Land tätigen ambulanten Hospiz- und Palliativberatungsdienstes und interessierte Bürger im Kulturzentrum.

Er informierte, dass der gemeinnützige Verein im kommenden Jahr sein 20-jähriges Bestehen mit vier Großveranstaltungen feiern werde. Mit der Lesung meldete sich der Hospiz-Dienst noch einmal in diesem Jahr eindrucksvoll zu Wort. Durch den Kontakt eines Mitglieds konnte als Vorleserin die bekannte Schauspielerin Anke Sevenich aus Frankfurt am Main gewonnen werden. Sie las dem gespannt lauschenden Publikum eindringlich und empathisch aus dem mit vielen Preisen ausgezeichneten US-amerikanischen Bestseller „Das Jahr des magischen Denkens“ von Joan Didion vor.

Bei dem Gehörten handelt es sich nicht um leichte Kost. Die Geschichte ist eigentlich keine Lektüre für einen verregneten Wintertag im November wie ihn der Hospiz-Dienst für seine Lesung unbewusst gewählt hatte. „Das Jahr des Magischen Denkens“ ist ein trauriges und hoffnungsvolles Buch zugleich. In ihm hat die amerikanische Schriftstellerin Didion 2005 über den plötzlichen Tod ihres Ehemanns, des Schriftstellers John Gregory Dunne, geschrieben. Dieser starb kurz vor dem Abendessen, fünf Tage bevor die gemeinsame Tochter Quintana, die an einer lebensbedrohlichen Krankheit litt, auf der Intensivstation an eine Atemmaschine angeschlossen wurde. In ihrem sehr persönlichen Buch schreibt die Autorin über diese beiden Tragödien, ihre Trauer und über ihren Versuch, das Unfassbare begreiflich zu machen.

Die 37-jährige Quintana wird Weihnachten 2003 mit einer Lungenentzündung und einem septischen Schock ins Krankenhaus gebracht. Auf der Intensivstation kämpft sie um ihr Leben. Ihre Mutter sitzt an ihrem Bett, spricht ihr und sich selbst Mut zu: „Du bist in Sicherheit, ich bin da“, flüsterte sie ihrem einzigen Kind ins Ohr. Sie hat ihre Tochter in vielen Krankenhäusern besucht, als diese dort auf den Intensivstationen lag. Sie eignete sich im Laufe der Jahre medizinische Fachkenntnisse an, um die Behandlung ihrer Tochter mitbestimmen zu können, führte viele Diskussionen mit den behandelnden Ärzten und den Pflegeteams. „Diese Anstrengungen machten mich weniger hilflos“, notierte sie am Bett ihrer Tochter.

Sie lernt dabei, geschickt zu taktieren, um die zuständigen Ärzte nicht zu brüskieren. Und sie beklagt, dass in der modernen Welt wenig Platz für Trauer und Trauernde ist. Durch die beiden Schicksalsschläge stürzt die Ehefrau und Mutter in die größte Krise ihres Lebens. Sie schwankt in den folgenden Wochen und Monaten zwischen Trauer und Angst, zwischen Verzweiflung und Hoffen. Als Quintana entlassen wird, schreibt Joan Didion anhand ihrer am Bett der Tochter gemachten Notizen innerhalb von 88 Tagen ihr Buch. Es ist ihr Versuch, das Erlebte zu verarbeiten, mit Gedanken und Erinnerungen gegen die Realitäten anzukämpfen. „Ihren Hirnströmen zuzusehen, war eine Art mit ihr zu sprechen“.

Als „Das Jahr des magischen Denkens“ im Oktober 2005 erscheint, ist Quintana wenige Wochen zuvor an einer Bauchspeicheldrüsenentzündung gestorben. Es gelingt der Essayistin und Reporterin Joan Didion in ihrem Buch anderen, die sich in derselben Situation wie sie befinden, zu vermitteln, dass viele Gefühle, Erfahrungen und Gedanken, dass Trauer und der Verlust des Halts in einem fortgeschrittenen Leben, auch von anderen Menschen gemacht werden. Didion verfasste noch eine Theateradaption, ein Ein-Personen-Stück, das 2007 am Broadway mit Vanessa Redgrave in der Rolle der Schriftstellerin uraufgeführt wird. Die Autorin ist einen Tag vor Weihnachten 2021 mit 87 Jahren verstorben. Im Anschluss an die Lesung nutzten die Zuhörer die Gelegenheit, sich über das Gehörte auszutauschen und sich über die Arbeit des Hospiz-Dienstes zu informieren.



X