Theaterprojekt „Trau dich!“ rückt Gefühle in den Fokus

Wieviel Nähe lasse ich zu, wieviel Distanz brauche ich? Susanne Kuntzsch (l.), Sozialarbeiterin an der Gesamtschule am Gluckenstein, übt mit Kindern der 5. und 6. Klassen im Rahmen des Schultheater-Projekts „Trau dich!“, dem eigenen Gefühl zu vertrauen. Foto: a.ber

Bad Homburg (a.ber). „Stop! Einen Schritt zurück!“ Für den Schüler einer sechsten Klasse der Gesamtschule am Gluckenstein (GaG) geht sein Gegenüber schon zu weit. Schüler stehen sich im breiten Flur der Schule paarweise gegenüber, Sozialarbeiterin Susanne Kuntzsch hat jedem einen Partner zugelost. Wie weit lasse ich mein Gegenüber an mich heran, wenn wir miteinander reden oder uns auseinandersetzen? Um Nähe und Distanz geht es bei der Übung an diesem Morgen, und Susanne Kuntzsch fragt die Schüler: nach ihren Gefühlen, „wenn dir jemand auf die Pelle rückt“, warum sie bei der besten Freundin mehr Nähe ertragen als bei Fremden, warum „eine Armlänge“ Distanz okay ist und ob ein Junge deshalb Abstand fordert, weil ihm ein Mädchen gegenübersteht. Die Übung ist Teil des „Trau dich!“-Theaterprojekts, an dem fast die ganze fünfte und sechste Jahrgangsstufe der GaG seit einigen Wochen teilnimmt.

Antje Klaus, Klassenlehrerin einer sechsten Schulklasse, hat die Informationshefte der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schon längst an die Schüler verteilt, in denen es um das Thema sexualisierte Gewalt und sexuellen Missbrauch geht. Vor den Herbstferien hatte es eine Lehrer-Fortbildung zum Thema gegeben, auf einem Elternabend wurden die Eltern von 200 teilnehmenden Schülern über das Projekt informiert, konnten Fragen stellen. „Die erste Frage, die da kam, war, ob man das ‚Trau dich!‘-Projekt deshalb an der Gesamtschule am Gluckenstein durchführe, weil es hier besonders viele Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Schüler gebe. Aber nein, wir konnten die Eltern beruhigen, an der GaG gibt es keine Häufung von Fällen“, sagt Antje Klaus, die ausgebildeter Präventions-Coach ist. Und dennoch habe man statistisch gesehen einige Kinder, die das betreffe, und die Situation mancher Familie während der Corona-Pandemie gebe auch Anlass zur Sorge. Sexualkundeunterricht gibt es schon in der vierten Grundschulklasse, doch das Thema sexueller Missbrauch mit Schülern zu thematisieren, dazu ist nach Meinung von Antje Klaus im Schulalltag kaum Zeit – „dazu braucht man Zeit und Ruhe.“ Susanne Kuntzsch, seit neun Jahren Sozialarbeiterin an der GaG, begleitet das Theaterprojekt: Schauspieler des Schultheaters Frankfurt am Main gehen mit ihr nacheinander durch die Schulklassen. „Wir sprechen unter anderem über Kinderrechte, ungewolltes Küssen und die Gefühlswelt der Kinder“, so Kuntzsch. Vorbereitet wird ein interaktives Theaterstück, das schließlich im Kurtheater für die zwei Jahrgangsstufen aufgeführt wird. Eingeübt werden Zwischenrufe der Kinder, es gibt Interviews mit Kindern, die bei der Aufführung eingeblendet werden. Doch die Schüler stehen nicht auf der Bühne. Wichtig ist den das Projekt durchführenden Erwachsenen, dass sie sich auf jede Klasse und deren Wissensstand individuell einstellen. „Die Kinder sollen nicht reinpurzeln in das Thema, wenn sie das Theaterstück sehen“, so Kuntzsch. Deshalb sind bei der Aufführung auch das gesamte Theaterteam sowie Kräfte von Pro Familia mit dabei. Die gute Vorbereitung durch Gespräche und Übungen wie die Nähe-Distanz-Übung seien deshalb wichtig. „Ich möchte mehr Abstand, wenn ich mich bedroht fühle von meinem Gegenüber“, „Ich habe kein Problem damit, meiner Freundin beim Gespräch die Hand zu halten“, „Ich möchte den Abstand entscheiden je nachdem, wer es ist“: Das Bewusstsein des Einzelnen für seine negativen und positiven Gefühle zu entwickeln, ist Ziel des Theaterprojekts. Und „Stop!“ sagen können, wenn man Nähe nicht erträgt, egal von wem.

„Welche Rechte habe ich als Kind? Darf ich meinen eigenen Gefühlen trauen? Wo finde ich Ansprechpartner und Unterstützung bei Problemen?“ Das seien Schlüsselqualifikationen, die Schüler erlernen müssten, sagt Johannes Seel, Leiter des Hauptschulzweigs der GaG. Die Gesamtschule habe Schüler aus 46 verschiedenen Nationen, deshalb sei es so wichtig, soziale Grundlagen und den guten Umgang miteinander zu vermitteln, so Seel. Rechte, Pflichten und Aushandlungsprozesse – „wir haben hier als Pädagogen einen weitreichenden Erziehungsauftrag, und was die Schüler jetzt lernen, hat Auswirkungen auf ihr späteres Leben.“



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