Einer der tiefsten Einschnitte in Hölderlins Leben

Professor Thomas Knubben liest im Kurhaus aus seinem Buch „Hölderlin. Eine Winterreise“. Foto: fch

Bad Homburg (fch). Gleich drei Pfunde konnte Professor Thomas Knubben bei der Lesung aus seinem Buch „Hölderlin. Eine Winterreise“ im Kurhaus in die Waagschale werfen: den Dichter Friedrich Hölderlin, zwei Wanderungen auf Schusters Rappen im Abstand von etwas mehr als 200 Jahren verbunden mit der Aussicht, etwas Neues über die geheimnisumwitterte Reise im Leben des Schriftstellers zu erfahren. „Diese Reise ist ein weißer Fleck im Leben Hölderlins und der deutschen Hölderlin-Forschung“, betonte in seiner kurzen Einführung Peter Lingens vom städtischen Museum Gotisches Haus.

Begrüßt wurde Thomas Knubben im Landgraf-Friedrich-Saal von Bettina Gentzcke, der Leiterin des Fachbereichs Kultur und Bildung. Sie freute sich, dass die ursprünglich für 1. April 2020 im Gotischen Haus anberaumte Lesung jetzt unter Corona-Bedingungen nachgeholt werden konnte. Das Publikum setzte sich aus 95 Hölderlin-Kennern und -Interessenten zusammen.

„Die Bordeaux-Reise wird zu einem der tiefsten Einschnitte in Hölderlins Leben. Sie gliederte sein Dasein in ein Davor und ein Danach“, berichtete der Historiker, Germanist und Kulturwissenschaftler, der seit 2003 eine Professur für Kulturwissenschaft und Kulturmanagement an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg innehat. Friedrich Hölderlin wanderte im Winter 1801/1802 acht Wochen lang von Nürtingen nach Bordeaux, um dort im Haus des Hamburger Konsuls und Weinhändlers Daniel Christoph Meyer eine neue Hauslehrerstelle anzutreten. Ihn trieb, wie Hölderlin notierte, „die Herzens- und die Nahrungsnot“. In Frankreich hoffte er, sich endlich die Existenz aufbauen zu können, die ihm zu Hause immer versagt geblieben war. Die „Winterreise“ sollte zum endgültigen Wendepunkt in seinem Leben und Schreiben werden. Zuvor war er bereits vier Mal als Hauslehrer gescheitert. Zuletzt im Hause des Frankfurter Bankiers Gontard (1798), dessen Gattin Susette Hölderlins unsterbliche Diotima wurde. Sein 1790/91 veröffentlichter Hyperion-Roman hatte nur eine geringe Auflage. Die Mutter wollte, dass Hölderlin Pfarrer oder wenigstens wie sein Jugendfreund Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Professor wird.

Das Buch von Thomas Knubben konzentriert sich auf die Monate der Reise. Der in 24 Kapitel mit je einem eigenen Motto untergliederte Text vereint zwei Zeitebenen, die von 1801 und die von 2007. „Und alle anderen Winterreisen spielen mit hinein“, sagt Professor Knubben. So ist beispielsweise Johann Gottfried Seume am gleichen Tag wie Hölderlin, am 6. Dezember 1801, nach Syrakus aufgebrochen.

„So unsicher die Hintergründe der Reise indes immer noch sind, so sehr eigen sind ihr doch schicksalhafte Züge. Ich will mich daher auf den Weg nach Bordeaux machen – im Winter, zu Fuß und allein – und will sehen, was mir Hölderlin auf dem Weg mitzuteilen hat.“ Knubbens poetische Reise beginnt in Nürtingen, wo Hölderlin aufgewachsen ist. Dort lebten seine Mutter und seine Schwester. Der Professor sieht in Nürtingen die „berühmte Liste der Ausgaben“ ein, die die Mutter des Dichters begann, als dieser 14 Jahre alt war, und bis zu ihrem Tod fast 40 Jahre später führte. Alles ist penibel aufgeführt. Knubben stellt fest, dass Hölderlin eigentlich vermögend genug gewesen ist, um die freie Schriftstellerexistenz zu führen, die er sich immer gewünscht hatte.

In Stuttgart besucht, der ebenfalls mit einem Haselnussstecken als Wanderstab ausgerüstete Knubben, das Hölderlin-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek, dem „Gral“, in dem 2524 Handschriften aufbewahrt werden. Weiter geht es über viele Stationen bis ans Ziel nach Bordeaux. Der Autor beschreibt die Reise anschaulich. Sein Buch ist eine Mischung aus beobachtender und ab und zu auch selbstironischer Reisebeschreibung, wissenschaftlichem Forschungsbericht, Erzählung von Hölderlins Leben und Schreiben und Interpretation vieler Gedichte. Hölderlin wird in Bordeaux freundlich empfangen, lässt sich bereits nach wenigen Wochen wieder einen Pass ausstellen und kehrt im Juni 1802 zurück. Sein Zustand ist trostlos. Die Freunde in Stuttgart erkennen ihn nicht wieder. Er ist vollkommen erschöpft und erregt zugleich, „leichenblass, abgemagert, von hohlem wildem Auge, langem Haar und Bart, und gekleidet wie ein Bettler“. Schelling sagte: „Der traurigste Anblick, den ich während meines hiesigen Aufenthalts gehabt habe, war der von Hölderlin, seit dieser fatalen Reise ist er am Geist ganz zerrüttet …

Knubben sammelt Indizien für seine Interpretation des plötzlichen Aufbruchs Hölderlins. Eine Ursache für die Rückkehr könnten die Rötel-Erkrankung und der Tod der geliebten Susette Gontard am 22. Juni 1802 gewesen sein. Ob dies so war, kann auch der Autor nicht aufklären. Dafür gelingt ihm ein fesselnder wie informativer Text, der Hölderlin, seine Zeit und sein Werk lebendig werden lässt und mit einem Gedicht von Thomas Brasch endet.



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