Zwischen Fantasie und Geschichte

Bad Homburg (nl). Kürzlich herrschte in der Buchhandlung Supp eine besondere Stimmung, als Letitia Lenel aus ihrem Buch „Eine liebe Frau“ las. In ihrem Werk widmet sich die Autorin dem Leben ihrer Urgroßmutter, die 1890 geboren wurde und bis in die 1960er Jahre lebte. Dabei stützt sich Lenel jedoch fast ausschließlich auf ihre Fantasie: Abgesehen von Briefen ihres Urgroßvaters gab es keine persönlichen Aufzeichnungen oder Dokumente, die von ihrer Urgroßmutter erhalten geblieben sind. Diese Herausforderung verwandelte Lenel in eine Stärke, indem sie ein literarisches Porträt erschuf, das weit über die Fakten hinausreicht.

„Wie träumt eine junge Frau um die Jahrhundertwende von ihrem Leben? Und wie verändert sich dieser Traum durch die gesellschaftlichen Umbrüche des 20. Jahrhunderts?“, fragte Lenel zu Beginn der Lesung. Ausgehend von den Briefen ihres Urgroßvaters und den historischen Rahmenbedingungen zeichnete sie die Figur ihrer Urgroßmutter mit einer Mischung aus dichterischer Freiheit und historischem Gespür. Ihre Lesung machte eindrucksvoll deutlich, wie sie die innere Welt einer Frau, deren Stimme in der Geschichte verloren gegangen ist, imaginativ rekonstruiert.

Besonders eindringlich war eine Passage, in der Lenel schildert, wie die junge Frau sich voller Optimismus eine harmonische und erfüllte Zukunft vorstellt – nur um später mit den Einschränkungen und Zwängen ihrer Zeit zu kämpfen. Dabei bleibt die Figur bewusst mehrdeutig: Sie schwankt zwischen Anpassung an die gesellschaftlichen Erwartungen und dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben. Diese Ambivalenz verleiht dem Buch seine emotionale Tiefe.

Lenels ruhige, konzentrierte Vortragsweise zog das Publikum in den Bann. Ihre Schilderungen ließen nicht nur die Welt ihrer Urgroßmutter lebendig werden, sondern warfen auch universelle Fragen auf: Wie gehen wir mit den Lücken um, die die Geschichte hinterlässt? Wie können Fantasie und historische Realität miteinander verbunden werden? Im anschließenden Gespräch erklärte Lenel, dass sie nicht die Absicht hatte, eine Biografie zu schreiben. „Es ging mir darum, etwas zu erschaffen, das vielleicht nicht dokumentarisch korrekt, aber emotional wahrhaftig ist“, sagte sie. Die fehlenden Fakten hätten sie nicht eingeschränkt, sondern ihr die Freiheit gegeben, ein literarisches Bild zu gestalten, das zeitlos und zugleich persönlich wirkt.

Die Lesung in der Buchhandlung Supp war eine nachdenklich stimmende und inspirierende Veranstaltung. „Eine liebe Frau“ ist nicht nur ein Porträt einer außergewöhnlichen Frau, sondern auch eine Reflexion über die Träume, Kämpfe und Zwänge vieler Frauen einer ganzen Epoche. Das Buch lädt dazu ein, sich mit der Verknüpfung von Vergangenheit und Imagination auseinanderzusetzen – und vielleicht die eigene Familiengeschichte mit neuen Augen zu betrachten.



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