Bad Soden (iba) – „Jetzt habe ich im Fußball alles erlebt“ ist einer dieser Sätze, die man nicht zu leichtfertig aussprechen sollte. Der gemeine Fußballfan erinnert sich vielleicht an Bayern gegen Manchester 1999 oder an Fjørtofts Übersteiger zum 5:1 gegen Kaiserslautern. Dass solche Spiele auf Profiniveau Wellen schlagen, ist verständlich, beim 7:1 gegen Brasilien saß gefühlt die ganze Nation vor dem Fernsehgerät.
Aber wenn Menschen in Niedersachsen von einem Spiel in der Kreisliga C Main-Taunus erfahren, muss schon etwas Besonderes passiert sein. Wir sprachen mit Beteiligten von beiden Seiten.
Rainer Kunz ist der 1. Vorsitzende und zugleich der Trainer der Zweiten Mannschaft des FV Neuenhain.
Obligatorische Frage: Haben Sie ein solches Spiel schon einmal erlebt?
Ich sag‘ es mal so: Wenn man zur Halbzeit schon so zurückliegt, kann man so ein Spiel eigentlich nicht mehr gewinnen. Und nein, so etwas habe ich noch nicht erlebt. Vor Ort fand ich es aber nicht einmal so dramatisch. Bis zur 20. Minute stand es noch 0:0, dann plötzlich innerhalb von 11 Minuten 5:1!
Zur Halbzeit sogar 7:1, aber das war eigentlich zu hoch, einige Tore sind praktisch aus dem Nichts gefallen. Was ja bei einer Zweiten Mannschaft durchaus mal passieren kann. Man spricht es vielleicht nicht offen aus, aber insgeheim denkt vielleicht doch der eine oder andere Spieler: „Das ist eigentlich durch, wir spielen das hier noch möglichst anständig zu Ende.“ Aber dann schießen wir ein Tor und dann noch eines und noch eines...
Wann haben Sie gemerkt, dass das kein normales Spiel ist? Und hatten Sie das Gefühl: Die schießen uns heute ab?
Das war schon speziell. Aber wir haben eigentlich gar nicht so viel falsch gemacht Beim 8:2 dachte ich: „Na immerhin, Ergebniskosmetik, gestalten wir das Ergebnis so gut, wie es eben geht.“ Aber dann nahm das Ding plötzlich Fahrt auf. Das gibt es ja schon öfter mal, dass eine Mannschaft plötzlich weiche Knie bekommt, wenn der Gegner ein Tor nach dem anderen schießt.
Wie geht es einem da an der Außenlinie? Und was sagt man da als Trainer in der Halbzeit?
In der zweiten Hälfte kam noch ein Spieler von der Ersten Mannschaft dazu, der war eindeutig eine Verstärkung, dazu noch einer von der Bank. Somit hatten wir zwei frische Spieler drin, die uns gepusht haben. Vor ein paar Wochen haben wir sogar 25:1 verloren (am 6. Spieltag auswärts gegen den FSC Eschborn II, Anm. der Redaktion), ich bin also Kummer gewöhnt! Eigentlich hatten wir ja nur 15 schlechte Minuten, der Rest war in Ordnung.
Das hat der Spielverlauf auch nicht hergegeben, ich fand nicht, dass der Gegner sechs Tore besser war.
Wann haben Sie dann gemerkt: Das kippt, wir können hier noch was holen?
Ich glaube, Altenhain ist irgendwann eingebrochen. Plötzlich hatten die Angst zu verlieren, mit jedem Tor von uns hat sich die Situation verschärft. Wir hatten diesen Positiv-Lauf und Altenhain eben einen Negativ-Lauf. Klar, die gelb-rote Karte gegen die hat uns auch geholfen. Trotzdem kann man so etwas eigentlich nicht erklären. Wie Ibrahimovic, der nach 0:4 dann noch das 4:4 gegen England per Fallrückzieher macht! Und als wir das 8:4 geschossen hatten, rannten drei von unseren Spielern ins Tor, holten den Ball raus und brüllten „Hier geht noch was!“ Ich glaube, das haben die Altenhainer auch gemerkt.
Nach dem Abpfiff und mit ein bisschen Abstand: Hat Neuenhain einen Punkt gewonnen oder zwei Punkte verloren? Sie lagen ja sogar 8:9 in Führung!
Einen Punkt gewonnen, ganz eindeutig, nach so einem Rückstand, dazu noch in einem Derby! Ich bin nicht auf TikTok, aber mir hat jemand einen Link zugeschickt, selbst da wird das Ergebnis kommentiert und diskutiert. Das schlägt also offensichtlich Wellen!
Dogan Gök ist Spieler des BSC Altenhain und hat nach 30 Jahren Vereinsfußball sicher schon das eine oder andere verrückte Spiel mitgemacht. Aber so eines noch nicht.
Obligatorische Frage: Haben Sie ein solches Spiel schon---
Noch nie! In 30 Jahren Fußball noch nicht. Und ich hab ja schon fast überall gespielt, in Friedberg, bei Rüsselsheim (Gruppenliga Darmstadt, Anm. der Redaktion), dann hier im Main-Taunus-Kreis; ich habe bestimmt schon ein halbes Dutzend Ligen durch. Aber so etwas: Nein, noch nie.
Wann haben Sie gemerkt, dass das kein normales Spiel ist? Und dachten Sie irgendwann: Heute gewinnen wir zweistellig?
Schon nach dem 4:0, da war die Geschichte eigentlich durch. Der Trainer hatte mich in den Sturm gestellt, obwohl ich ja gelernter Mittelfeldspieler bin. So viele Tore wie an diesem Sonntag schieße ich sonst in einer ganzen Hinrunde. Bei uns klappte echt alles und bei Neuenhain klappte gar nichts. Und zur Halbzeit stand es 7:1, ab dann hätte man die Positionen eigentlich auswürfeln können und wir hätten das Spiel trotzdem gewinnen müssen. Läuferisch waren die aber auch top, die haben um jeden Ball gekämpft, obwohl die so hoch zurück lagen.
Was sagte der Trainer bei einem solchen Halbzeitstand?
Der musste gar nicht viel sagen, wir hatten ja fast alles richtig gemacht. Einen Spieler mussten wir verletzungsbedingt tauschen, das war‘s. Aber nach dem 8:1 war das so, als hätte jemand einen Kippschalter umgelegt. Plötzlich klappte bei uns nichts mehr und bei denen war es wie an der Schießbude auf der Kerb, jeder Schuss ein Treffer.
Wann haben Sie gemerkt: Die holen das Ding echt auf?
Nach dem 8:4, da kippte die Stimmung plötzlich und die Neuenhainer bekamen noch mal die zweite Luft. Wir bekamen in der ersten Halbzeit einen Elfmeter, die bekamen in der zweiten Halbzeit zwei Elfmeter, dann waren wir durch eine gelb-rote Karte nur noch zu zehnt… Und so nahm das dann seinen Lauf.
Hat bei diesem Ergebnis Altenhain einen Punkt gewonnen oder eher zwei Punkte verloren?
Natürlich zwei Punkte verloren. Nach so einer Führung! Aber Hut ab vor Neuenhain, die haben 90 Minuten gekämpft und nie aufgegeben. Das war nicht unverdient.
Das wievielte Mal werden Sie jetzt gerade auf dieses Spiel angesprochen?
Das darf ich gar nicht laut sagen. Mein Handy hat keine Ruhe mehr gegeben, bei 70 Nachrichten habe ich aufgehört zu zählen. Ein Arbeitskollege meines Bruders aus Hannover hat von dem Spiel erfahren und meinen Bruder darauf angesprochen! Und da bin ich bestimmt nicht alleine.
Das stimmt. Arnd Zeigler, der Stadionsprecher von Werder Bremen, hat das Ergebnis auch schon gepostet!
Alle 25 oder 26, die da mitgespielt haben, werden dieses Spiel nicht vergessen. Davon werden die noch im Altersheim erzählen. Und ich wahrscheinlich auch!
BSC Altenhain - FV Neuenhain II 9:9
Torfolge:
1:0 Gök (20.)
2:0 Gök (21.)
3:0 Drugalea (26.)
4:0 Gök (27.)
5:0 Duka (29.)
5:1 Matkovic (31.)
6:1 Yalciner (36., FE)
7:1 Meyer (45.+1)
8:1 Meyer (55.)
8:2 Hille (59.)
8:3 Hille (61.)
8:4 Altenkamp (67., FE)
8:5 Altenkamp (69., FE)
8:6 Matkovic (73.)
8:7 Kunz (75.)
8:8 Altenkamp (84.)
8:9 Altenkamp (89.)
9:9 Duka (90.+1)