Grausame, wahre Begebenheit als Hörspiel

Schlüpfen gekonnt im Live-Hörspiel „Tannöd“ in 26 verschiedenen Szenen in die Rollen der Opfer, Nachbarn und sonstiger Personen – die beiden miteinander verheirateten Schauspieler Johanna Bittenbinder und Heinz-Josef Braun. Foto: fch

Friedrichsdorf (fch). Schwer und feucht haftet die undurchdringliche Wolke am Boden. Landschaft, Dörfer und Städte sind unter einem grauen, wabernden Mantel begraben. Licht und Geräusche ausgelöscht. Plötzlich schälen sich erst schemenhaft, dann immer deutlicher Schatten aus dem Nebel heraus. Hastig eilen sie in Richtung der verschwommenen Umrisse des Forums Friedrichsdorf. „Hitchcock-Wetter“ sorgt für fröstelndes Unbehagen und stimmt die Besucher perfekt auf einen Krimi-Abend mit Gänsehautfeeling ein.

Gegeben im Forum wird: „Tannöd – Ein Live-Hörspiel“. Die Handlung basiert auf einem authentischen, bis heute nicht aufgeklärten Kriminalfall. Dieser inspirierte die bekannte Schauspielerin Johanna Bittenbinder zum Schreiben des „Live-Hörspiels Tannöd“. Auf einem Einödhof regiert das Grauen, dem sechs Menschen zum Opfer fallen. Sie werden mit einer Spitzhacke getötet. „Wer des gemacht hat, des kaan doch koan Mensch sein“, bilanziert erschüttert Bauer Johann Sterzer (52). Er ist einer von drei Bauern, die die im Stall unter Stroh versteckten und im Haus liegenden Opfer finden.

Bittenbinder wuchs als Bauerntochter auf einem abseits gelegenen Aussiedlerhof (Einödhof) in Unterhaching auf. Bekannt ist sie unter anderem aus TV-Serien wie Max Färberböcks Niederbayern-Krimi „Sau Nummer 4“, die „Rosenheim Cops“, verschiedene „Tatorte“, „Wer früher stirbt, ist länger tot“ und weiteren Sendungen. Nominiert war sie als beste Schauspielerin für den Deutschen Fernsehpreis in „Zwei Allein“ von Stephan Wagner. Bittenbinder erarbeitete auf Basis des Bestsellers „Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel, eine verdichtete Bühnenfassung. Aus Zeugenprotokollen der Nachbarn, der abergläubischen Pfarrersköchin Maria Lichtl „wenn sie mi fragen, die ganze Sippschaft da draußen, hat der Teifel geholt“, des verschlagenen Gelegenheitsdiebes Mich, der achtjährigen Betty und verschiedenster Dorfbewohner entsteht eine mitreißende Kriminalgeschichte. Die hat es in sich, zieht die Besucher im Forum förmlich mitten ins Geschehen hinein. In den Aussagen der Opfer, Nachbarn und sonstigen Personen spiegelte sich zugleich ein ganzer Mikrokosmos ländlicher Tragödien.

Der „Dannerbauer“ (fiktiver Name) „ist da auf dem Hof, der Herrgott“. Hermann Danner schlägt seine Frau, stellt jeder Magd nach, missbraucht seine Tochter Barbara Spangler, seit ihrem zwölften Lebensjahr. „Mit der Zeit wurden die Abstände seines Kommens immer kürzer.“ Zwei Mal gebar sie ihrem Vater ein Kind, Marianne (8) und den kleinen Josef. Jedes Mal gab sie einen anderen Vater an. Die Bäuerin Theresia Danner duldet alles, flüchtet sich in Frömmigkeit. Sechstes Mordopfer ist die neue Magd Maria „Mare“ Meiler.

Knarrende Türen, dumpfe Schritte

Im Laufe des Hörspiels begegnen die Zuhörer immer wieder dem Mörder selbst und seinen Opfern, die ihre eigene Geschichte erzählen. Knarrende Türen, dumpfe Schritte oder klirrenden Kuhketten holen die Atmosphäre des Einödhofes in den Saal des Forums. Bittenbinder und ihr Ehemann, der ebenfalls aus Funk, Fernsehen und Bühne bekannte Schauspieler, Musiker, Kabarettist und Autor Heinz-Josef Braun („Schluss! Aus! Amen!“, „Beste Chance“, „Jennerwein“) leihen dem „Mörder“, den Opfern, ihren Verwandten, Bekannten, Nachbarn und Dorfbewohnern ihre Stimmen. Hauchen ihnen mit Mimik, Gestik und ihrem Können Leben ein. „Wir lesen eine Figur, steigen in ihre emotionale Situation ein“, informiert Braun.

Musikalisch begleitet werden die beiden Charakterschauspieler vom Art Ensemble of Passau mit Florian Burgmayr (Komposition, Akkordeon, Tenorhorn), Teresa Loibl (Tuba, Klarinette), Peter Tuscher (Trompete) und Yogo Pausch (Schlagwerk, Geräusche). Mit schmissigen Polkas, sentimentalen Walzern und einprägsamen Instrumentaljodlern untermalen die Jazzmusiker die schaurige Szenerie im Haus und Stadel. Sie entfachen einen „musikalischen Zirkus des Grauens“, der die Wirkung der von den Schauspielerin zu Gehör gebrachten Geschichten verzehnfacht. Im Saal ist es still. Das Publikum ist gefesselt, lauscht atemlos der Tragödie. Und wird nach dem Abebben des anhaltenden Beifalls für Schauspieler und Musiker erneut vom Nebel aufgesogen.

Zur Info: „Tannöd“ ist die spannende Geschichte eines authentischen Kriminalfalles auf dem heute nicht mehr existierenden Einödhof „Hinterkaifeck“. Dort wurden in der Nacht vom 31. März auf den 1. April 1922 alle sechs Bewohner ermordet, indem ihnen mit einer Reuthaue (Spitzhacke) massive Kopfverletzungen beigebracht wurden. Bei den Getöteten handelte es sich um das Austragsbauernehepaar Andreas (64 Jahre) und Cäzilia (72 Jahre) Gruber, deren verwitwete Tochter Viktoria Gabriel (35 Jahre), deren Kinder Cäzilia (sieben Jahre) und Josef (zwei Jahre) sowie die Magd Maria Baumgartner (45 Jahre). Der ungeklärte Sechsfachmord ist Grundlage zahlreicher journalistischer und literarischer Veröffentlichungen sowie mehrerer Spiel- und Dokumentarfilme. Der Krimibestseller „Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel erhielt zahlreiche Preise, den Deutschen Krimi-Preis – Kategorie National 2007, den Friedrich-Glauser-Krimipreis 2007 für das beste Debüt und den Corine (internationaler Buchpreis). Die Autorin hat die bis heute Rätsel aufgebende Geschichte in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verlegt. Schauspieler Heinz-Josef Braun sagt, dass für ihre Interpretation des Falles nach dem Bestseller von Andra Maria Schenkel der Begriff „Live-Hörspiel“ am besten passt. „Die Atmosphäre, die Figuren und Bilder auf der Bühne und die im Kopf des Publikums entsprechen denen in einem Hörspiel. Deshalb ist „Live-Hörspiel die treffendste Beschreibung, da es keine Lesung ist.“



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