Sehen, Tasten, Hören im Heimatmuseum Seulberg

Augen schließen und sich auf das Fühlen der Exponate konzentrieren bei der Blindenführung im Heimatmuseum Seulberg durch die Sonderausstellung „750 Jahre Köppern“. Foto: fch

Friedrichsdorf (fch). Museen sind spannende Orte. Wer mit allen Sinnen durch die Ausstellungen geht, lernt viel. Über Geschichte, Vergangenheit und Gegenwart ebenso wie über Vorfahren und Zeitgenossen. In einer inklusiven Gesellschaft ist die Teilhabe jedes Einzelnen am gesellschaftlichen Leben in allen Bereichen möglich. Dazu gehört Bildung. Sie ist ein Menschenrecht. Museen gehören zu den Orten, an denen Bildung mit allen Sinnen erworben und vertieft werden kann. Vor diesem Hintergrund fand im Heimatmuseum Seulberg unter dem Motto „Nach vorne schauen“ eine besondere Führung für Sehbehinderte, Blinde und Sehende statt.

Anlass war die zum 18. Mal von der Christoffel-Blindenmission Deutschland initiierte „Woche des Sehens“. Museumsleiterin Dr. Erika Dittrich begrüßte zur „Blindenführung“ im Heimatmuseum Seulberg sechs Bürgerinnen, die der Archäologe Alexander Weisgerber fachkundig durch die Sonderausstellung „750 Jahre Köppern“ führte. Zu sehen ist sie im Anbau des ehemaligen Schul- und Rathauses von 1779, in dem das Heimatmuseum seinen Sitz hat. Damit die bis auf eine Besucherin Sehenden am eigenen Körper erleben konnten, wie es ist, wenn die Sehkraft ganz oder teilweise beeinträchtigt ist, verteilte das Museumsteam Brillen – vier unterschiedliche Simulationsbrillen. Sie veranschaulichten den Trägern wirkungsvoll die visuellen Einschränkungen, die verschiedene Krankheiten wie Grauer Star, altersabhängige Makula-Degeneration, Retinitis Pigmentosa oder diabetische Retinopathie hervorrufen. Die Sicht kann je nach Krankheitsbild verschwommen, kontrastarm, mit dunklen Flecken oder Rändern versehen sein.

Dadurch wurde die Jubiläums-Ausstellung in mehrfacher Hinsicht ein Erlebnis. „Schließen sie mit und ohne Brille ihre Augen. Konzentrieren sie sich ganz auf das Fühlen der Steine, Scherben, Gebrauchsgegenstände oder Werkzeuge in ihrer Hand“, forderte Alexander Weisgerber die Besucherinnen auf. Mit ihren Fingerspitzen erkundeten sie Form, Stärke, Einkerbungen und Verzierungen der Exponate aus der Jungsteinzeit. „Versuchen sie sich vorzustellen, zu welchem Gefäß oder Werkzeug diese Teile gehört haben könnten.“ Gefunden haben sie einst Bauer Emil Alfred See (1888-1955) und seine Familie auf ihren Feldern. Sie gehören zu den mehr als 100 Fundstücken der Sammlung „Post See“, die teils in einer Vitrine ausgestellt sind.

Informationen gibt der Archäologe nebenbei zu Unterscheidungen von Axt, Beil und Dechsel, erbittet die Mithilfe der Besuchergruppe zu einem Radsiegel auf einer Tonscherbe aus der Römerzeit, dass bisher noch keiner römischen Einheit zugeordnet werden konnte. Und dies, obwohl „Radstempel sehr selten sind.“ Angeregt wurde die Fantasie aller durch weitere Stücke wie einen aus einer Manufaktur stammenden, mit einer Seriennummer versehenen Pfeifenkopf, der innen verrußt ist, oder den Knochen, der von einem Kind oder kleinen Menschen stammt. Dieser Museumsbesuch wurde für alle eine Reise in eine fremde, faszinierende Welt. Eine Welt, in der vor allem unterschiedliche Oberflächenstrukturen, das Tasten in der Fühlstation und Berührungen in Kombination mit Worten und Geräuschen an die Stelle der optischen Reize traten.

Blind durch 750 Jahre Köppern

Erkundet wurde in der Gruppe die Geschichte Köpperns. Die Herkunft des Ortsnamens, der sich ab 1269 von „Copperno“ bis „Köppern“ veränderte. Dessen Bedeutung beschäftigte alle ebenso wie die Tatsache, dass „kein anderer Ort in Deutschland diesen Namen trägt“. Zum Nachdenken und Spekulieren regten Tatsachen wie die zehn Grabhügel in der Köpperner Gemarkung und ein Hügel in Seulberg an. Informationen zu Bürgern, Sehenswürdigkeiten wie dem Mühlrad im Wald, dem ehemaligen Ortsgefängnis, „16 Fuß lang und 14 Fuß breit“, Vereinen, Firmen wie die Flugpioniere Werntgen oder das Waldkrankenhaus sorgten für Gesprächsstoff.

Dazu gehörte auch das Wunderheilmittel Theriak. Ein noch bis ins 19. Jahrhundert begehrtes Heilmittel gegen Schmerzen, das 70 Zutaten – unter anderem Opium, aber auch Schlangengift und verschiedene Kräuter – hatte. Verkauft wurde es weltweit in flüssiger Form oder als Paste. Datieren kann man die Verbreitung der Arznei ungefähr vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei die Entdeckung schon den Römern zugeschrieben wird. Neben vielen interessanten Dingen haben die Museumsbesucherinnen vor allem dank der Simulationsbrillen die Bedeutung gesunder Augen am eigenen Leib erfahren.

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