Eine Adelsfamilie als Kämpfer für die Einheit Deutschlands – Torsten Weigelt präsentiert Gagern-Buch

Torsten Weigelt im Gespräch mit Andrea Rost. Ihr verriet er auch, welchen von Gagern er am beeindruckendsten fand: Hans Christoph, Vater von Heinrich, Friedrich und Maximilian. Fotos: Judith Ulbricht

Kelkheim
(ju) – Dass die von Gagern prägend für Kelkheim und den Stadtteil Hornau waren, dürfte inzwischen kein Geheimnis mehr sein. Ihre politische Rolle ist eine noch viel größere. Sie prägten die Nationalversammlung ab 1848. Und eben 2023 jährt sich die erste Nationalversammlung zum 175. Mal. Die Nationalversammlung, die als Geburtsstunde der parlamentarischen Demokratie gefeiert wird, wenn man auch die Strukturen noch nicht mit unserer heutigen parlamentarischen Demokratie vergleichen kann.

Der Kelkheimer Autor Torsten Weigelt hat sich in seinem Buch „Gagern – Pioniere der deutschen Demokratie“ eingehend mit Hans Christoph, Heinrich, Friedrich und Maximilian beschäftigt und sie in ihren politischen Rollen so dargestellt, wie er es in vielen, vielen Stunden im Staatsarchiv herausfand. Bei der Buchpremiere im Plenarsaal des Kelkheimer Rathauses erklang nicht ohne Grund als erstes das wundervolle Lied „Die Gedanken sind frei“, vorgetragen von Roman Kupferschmidt auf seiner Klarinette. Eine Zeile daraus lautet: … denn meine Gedanken zerreißen Schranken und Mauern entzwei: die Gedanken sind frei.“ So handelten die von Gagern – mit ihren Gedanken, ihren Ideen ließen sie bestehende Mauern einreißen, öffneten die Tür für die Demokratie, für bürgerliche Rechte. Auf die Bedeutung des Plenarsaals ging Julia Ostrowicki als Stadtverordnetenvorsteherin, die das Parlament der 45 ehrenamtlichen Stadtverordneten leitet, in ihrer Begrüßungsrede ein. Denn „in ihm werden demokratische Entscheidungen getroffen und vor allem viel diskutiert und damit ist Meinungsvielfalt als Zeichen von Demokratie immer präsent.“ Dass sie heute hier stehen und so offen darüber reden kann, verdankt sie zu einem Teil den von Gagern. Natürlich könne man die Protagonisten von damals nicht mit unseren heutigen Erfahrungen beurteilen, die Familie habe dennoch dazu beigetragen, „dass wir heute da sind, wo wir sind“. Dass unsere Demokratie jedoch gefährdet sei, sieht auch die Politikerin so. Viele Menschen sehnten sich gerade in Krisenzeiten nach dem starken Mann, der sie vermeintlich beschützt und durch die Krise leitet. Wo das hinführen kann, zeigt uns unsere eigene Geschichte oder der derzeitige Krieg in der Ukraine. Julia Ostrowicki weist darauf hin, dass Demokratie nun mal kein statischer Zustand sei, einmal erreicht, bleibt alles gleich. „Nein, Demokratie hat sich auch in Deutschland entwickelt, entwickelt sich auch immer weiter. Und um all das zu verstehen, ist der Blick zurück auf unsere Geschichte so hilfreich“, spielt sie den Ball zu Torsten Weigelt, der entspannt aus seinem Buch vorliest und im anschließenden Gespräch mit der ehemaligen FR-Redakteurin Andrea Rost über die Entstehung des Buches plauderte. Ihm lauschten dabei nicht nur die rund 100 Zuhörer, die gekommen waren. In der erste Reihe saß ein echter Nachfahre derer von Gagern. Rüdiger von Gagern, Heinrichs Ur-Ur-Enkel, der mit seiner Frau Adelheid nach Kelkheim gekommen war, zeigte sich begeistert von dem Buch. Auch er hebt die Lebensleistung, ähnlich wie Weigelt in seinem Buch, des Familienoberhauptes Hans Christoph hervor. Der Tausendsassa tanzte auf vielen Hochzeiten, traf in Paris auf Napoleon, sprach im Wiener Kongress, traf sich zum Plausch mit Fürst von Metternich. Seine Affinität für die Politik ging auf die Söhne über, es gab nach Aussage von Weigelt heiße Diskussionen auf dem Hofgut in Hornau, das die von Gagern 1818 erwarben und auf dem sich regelmäßig die gesamte Familie traf.

Die Idee zu dem Buch hatte Torsten Weigelt so eigentlich nicht im Kopf. „Ich wollte nicht selber schreiben, sondern lesen“, erzählte er freimütig. Doch Literatur über die Familie ist rar, nur eine veraltete Habilitation war zu finden. Ein Treffen mit seinem Verleger schafft die Idee. Im Staatsarchiv in Darmstadt stößt er auf das Familienarchiv – 185 Kartons voll mit Briefen und Unterlagen. Eine Goldgrube, wie das Buch zeigt. Für Weigelt war es wichtig, die von Gagern als das zu zeigen, was sie waren – weder Schurken noch Heilige. Sie einte ihr Frust über die damaligen politischen Zustände und die Kleinstaaterei (40 Staaten). Ihr Ziel war der Nationalstaat mit Verfassung und der Schaffung bürgerlicher Rechte. Waren sie auch Anhänger der konstitutionellen Monarchie und Gegner des allgemeinen Wahlrechts, so waren sie nicht verbohrt in ihren Vorstellungen, sondern zeigten sich pragmatisch und kompromissbereit. Weigelt nimmt seine Zuhörer mit auf den Staufen, zum berühmten Treueschwur, lässt den Tod Friedrichs beim Heckeraufstand aufleben und erzählt Amüsantes über die Wahl Heinrichs zum Präsidenten der Nationalversammlung am 18. Mai 1848, die gespickt war mit Pannen. Hüte gingen rum, da Wahlurnen fehlten, Abgeordnete hatten nur „Gagern“ auf den Zettel geschrieben, obwohl mit Max und Heinrich zwei von ihnen anwesend waren. Nachdem bei einer Sonderabstimmung der jüngere Max keine Stimmen erhält, ist Heinrich der 1. Vorsitzende der Nationalversammlung und wird sieben Mal in seinem Amt bestätigt – mussten die Abgeordneten damals doch jeden Monat zum Wahlvorgang antreten.

Die von Gagern sind längst ein Teil der Kelkheimer Identität. Die Besinnung auf sie und ihre Geschichte sollte Energien und Leidenschaften wecken, die wir brauchen, um Staat und Gesellschaft so fortzuentwickeln, dass wir unsere Werte bewahren können. Das hätte den von Gagern gefallen.

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