Königstein (hhf) – Wäre die Balustrade in der „Aula“ der Volksbank so mit Wutbürgern gefüllt gewesen wie die Tiefgeschosse des Stuttgarter Hauptbahnhofs, hätte Professor Dr. Diether Döring sicher noch mehr Besucher begrüßen können, doch wäre es in diesem Fall fraglich gewesen, ob man ihn überhaupt zu Wort hätte kommen lassen. So begnügte sich der Moderator des Königsteiner Forums, das durch kulinarische Angebote der „Party Company“ und den immer regelmäßiger aufgebauten Büchertisch der „Millennium“-Buchhandlung in der Schalterhalle des Frankfurter Finanzinstitutes mehr und mehr einem „Forum“, also Marktplatz nach römischem Vorbild gleicht, mit einigen Lücken in der oberen Etage. Im Gegenzug hatte er es dafür nicht mit zornigem Volk, sondern vielmehr dem wißbegierigen, wenn auch diskussionsfreudigen Stammpublikum der Vortragsreihe zu tun, darunter Vorstandsmitglieder der Bank und Vertreter von FAZ und Societäts-Verlag.
Zum zweiten Mal, so Döring, sollte diesmal ein Blick auf die Verfassung (durchaus doppelsinnig) unserer Republik geworfen werden, nach dem Verfassungsjuristen war diesmal ein Fachkollege geladen, der das Spektrum um die Soziologie erweitern sollte. „Die Reparaturbedürftigkeit des Systems“ sowie „lebendige Demokratie“ repräsentiert nämlich, so Soziologe Döring, neuerdings die Spezies der „Wutbürger“, was eine eingehendere Beschäftigung mit dieser Bevölkerungsgruppe nahelegt.
Gerade noch vor der Sprengung des Soziologen-Turmes war Prof. Dr. Dr. Günter Frankenberg von der Goethe-Universität Frankfurt am Main zum Referat geladen, wenngleich sein Tätigkeitsschwerpunkt etwa drei Häuser weiter nördlich liegt. Genug Zündstoff unter dem Titel „Wutbürger – Krise oder Lebenszeichen der Demokratie?“ hatte der Dr. jur, & Dr. phil. gleichwohl im Gepäck. Geboren ist der Nord-Nordhesse mit dem ebenfalls auf diese Gegend hinweisenden Nachnamen 1948 in Bad Karlshafen, 30 Jahre später erfolgte seine erste Promotion am Institut für Sozialwissenschaften der TU München. Seither Mitherausgeber der Zeitschrift „Kritische Justiz“ setzte er 1982 in Bremen den Dr. jur „drauf“ und wurde 1985 nach Frankfurt berufen. Zunächst als Professor für Verwaltungs-, Verfassungs- und Sozialrecht an der Fachhochschule, dann wechselte er 1993 auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität. Zwischendurch führten ihn Gastprofessuren von den USA über Australien bis nach Pnom Penh in Kambodscha.
Vielleicht durch den Aufenthalt im Land der „Killing Fields“ etwas abgeklärter als viele Kollegen eröffnete Günter Frankenberg den Vortrag fröhlich mit „Guten Abend, liebe WutbürgerInnen“, vielleicht lag es aber auch daran, dass er nicht zum ersten Mal im Königsteiner Forum auftrat, was ihn zum Nachdenken über ein „Ketten-Vortrags-Verhältnis“ bewog. Bevor das Arbeitsrecht ihm aber noch ein Eigentor bescheren konnte, widmete er sich umgehend dem angekündigten „Wutbürger“ und versuchte zunächst, ihn bei den Wurzeln zu packen: Eine von den Medien erzeugte „Chimäre oder empirisch gehaltvolle Beschreibung eines neuen Protesttypus“, so die Fragestellung des Forschers. Mittlerweile im Duden angekommen, tauchte der „Wutbürger“ zwar nicht erstmalig 2010 in einem Essay des „Spiegel“ auf, wurde aber ab diesem Zeitpunkt erst richtig bekannt. Beschrieben wurde er damals als veränderungsfeindlicher Egoist im gesetzten Alter, der bewahren will, was er hat und daher emotional aufgeladen und ohne Blick auf die Zukunft zum Beispiel in Stuttgart auf die Straße geht um tu protestieren.
„Wenig Realitätsgehalt“ sprach Frankenberg allerdings diesem Erscheinungsbild aus Sicht der Politologie oder Sozialforschung zu: „Keine Studie bestätigt verantwortungslose, irrational handelnde Egoisten!“ Mit dem Alter aber lag der „Spiegel“ wohl richtig: „Früher hieß es: Bürger, lasst das Gaffen sein, kommt herunter, reiht euch ein“, heute sind die Angesprochenen längst „unten“ dabei, darunter etwa die Hälfte mit akademischem Werdegang. Allerdings regiert dort nicht impulsive Wut, sondern sorgfältig geplanter, rational begründeter Protest, denn die Bürger fühlen sich zunehmend von den Entscheidungen der Politiker übergangen. Dieses Phänomen aber „begleitet die Politik seit 200 Jahren“, nicht nur in Europa gab es Revolutionen und Gegenrevolution, sondern zum Beispiel auch in den USA.
Mit dem Blick auf gestürzte Monarchen stellt sich nun die Frage „Ist der Wutbürger ein Symptom des Verfalls oder ein Zeichen von demokratischer Vitalität?“ – das aber ist schwer zu beantworten, denn es lassen sich drei Grundtypen im System der Demokratie ausmachen. Die Pessimisten sehen ihren Einfluss auf die Politik durch Globalisierung und Expertenräte geschmälert und ziehen sich als politikverdrossene Nichtwähler in eine „zivile Desertion“ zurück. Für sie zeigt der Wutbürger „die Leistungsgrenzen der schwindsüchtigen Demokratie“ auf.
Die Optimisten sehen dagegen im Wutbürger ein steigendes Interesse an der Politik, eine wachsende Bereitschaft, sich zu beteiligen: „Die griechische Polis lässt ein bisschen grüßen.“ Das spricht dafür, dass die Demokratie zu retten ist, allerdings müssen einige „Haltungsschäden“ korrigiert werden und neue Formen der Beteiligung gefunden werden. Die Realisten schließlich sehen sowohl Krise als auch Formwandel in der Demokratie, vor allem sei die parlamentarische Version der Demokratie kräftig in die Knie gegangen: „Das Projekt ist irgendwie versandet, keine Volksbeteiligung mehr, seit die DDR geschluckt worden ist.“
Ebenfalls ganz real greifbar ist eine Divergenz zur demokratischen Idee, nämlich dass sich eine Schere im Volk auftut: Sogenannte bildungsferne Schichten werden zunehmend passiv und die Gestaltung der Politik wird überwiegend von den gebildeten „Aktivbürgern“ übernommen, deren Interessenlage durchaus nicht alle bedürfnisse des Volkes repräsentiert. Aber auch eine „Vergeheimdienstlichung“ und institutionelle Übermacht von Experten übergeht die engagierten Bürger, denen immer mehr Entscheidungen als „alternativlos“ aus den Händen genommen werden.
„Man muss auch Expertisen offen im Parlament debattieren, um der Politikverdrossenheit zu begegnen“, denn Demokratie muss auch gelebt werden. Schließlich hat auch nicht jeder Experte uneingeschränkt recht, was zum Beispiel gegenüber Umwelt- und Klimaschützern gerne betont wird im Gegensatz zu Wirtschaftsweisen. „Es muss auch thematisch um etwas gehen“, wenn der Bundestag debattiert, der sich gerne in „Stellvertreterdebatten“ flüchtet, dann zeigen sich dem Wähler wieder echte Alternativen auf: „Demokratie ist eine Lebensform, in der man Streit auch austrägt“, wenn das im Parlament und nach Regeln geschieht, kann die Straße wieder leer bleiben. Da muss sich aber schon einiges ändern, vor allem die Diktatur von TINA: „There is no alternative“ hatte Maggie Thatcher eingeführt, um ihre Vorstellungen schneller durchzusetzen, ihre Epigonen tun dies heute auch in Deutschland regelmäßig, die Palette reicht von Kassel-Calden bis zum Endlager Gorleben und galt auch schon für den heute längst vergessenen Transrapid.
Alternativlos schlecht auch die nichtssagenden Bezeichnungen für große Regierungsprogramme wie „Agenda 2010“ oder „Hartz IV“. Man muss sich schon etwas unter den Begriffen vorstellen können, wenn man an der Wahlurne oder im Parlament zum Beispiel über einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ abstimmt, es käme dann frischer Wind in die Debatte und das Parlament könnte wieder zu einem „Theater der Leidenschaften“ werden, das viele anspricht. Wohlgemerkt sollte man diese Leidenschaften nicht direkt gegen Vernunft setzen, sondern damit arbeiten. Vorbild könnten die USA sein, wo der „New deal“ große Bevölkerungsschichten erregt und auch der dort gehegte Patriotismus: „Die hätten mit Wutbürgern kein Problem.“
Dem „Wutbürger“ steht die Politik manchmal bis Oberkante Unterlippe, die im Bild eingefangene Geste Prof. Dr. Dr. Günter Frankenbergs entstammt allerdings der regen Diskussion im Anschluss an seinen Vortrag, die wie von ihm zuvor von Demokraten eingefordert als ein „Theater der Leidenschaften“ geführt wurde.
Foto: Friedel