Autor Patrick Roth ist aktuell vorgeschlagen für den Deutschen Buchpreis 2012. In seinem neuesten Roman „Sunrise“ erzählt er die Geschichte von Joseph von Nazareth, dem Ziehvater Jesu. Am heutigen Donnerstag, 5. Dezember, 19 Uhr, wird er sein Buch auf Einladung der Buchhandlung Millennium aus Königstein bei freiem Eintritt an der Bischof-Neumann-Schule (Bischof-Kindermann-Straße 11) vorstellen.
Herr Roth, Sie sind als junger Mann in die USA gegangen und Anfang letzten Jahres nach nahezu vier Jahrzehnten wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Was hat Sie damals nach Los Angeles geführt?
Der Film. Ich wollte mit Hilfe eines Stipendiums – in der Filmabteilung der Uni in Los Angeles – mehr vom Handwerk erlernen.Neben der Sprache also auch das Verfassen amerikanischer Drehbücher. Das waren die ersten Ziele damals. Ich wollte Geschichten „in Bildern erzählen“, wollte sie so aufbauen lernen, dass sie fesseln, den Zuschauer in ihre Spannung hineinziehen..
Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben?
Ich habe gefunden, was mich gesucht hat. Mein im letzten Frühjahr erschienenes Buch, „Die amerikanische Fahrt“ handelt genau von diesem Suchprozess. Man weiß ja im Leben oft nicht, warum einem etwas widerfährt. Wir erkennen erst später – wenn überhaupt – einen Sinn hinter großen Wendepunkten in unserem Leben. Ich kann heute sagen: Die Entdeckungen, die ich in Amerika gemacht habe, wären mir in Deutschland verstellt geblieben. Man braucht die Fremde, um das Eigene – das Eigenste – entdecken zu lernen.
Damals war es nicht alltäglich, nach dem Abitur ins Ausland zu gehen. Heute ist es fast zu einem Standard geworden. Welchen Rat würden Sie den jungen Menschen geben, die sich auf den Weg machen, um eine andere Kultur kennenzulernen?
Sie sagen es schon: „Macht euch auf den Weg!“, das wäre mein Rat. Und zwar an allem „wenn“ und „aber“ vorbei. Erst mal „raus“, in die andere Welt eintauchen. Diese „andere Kultur“ wird sich – dafür sollte man offen bleiben – als notwendiger Schlüssel zur eigenen Kultur erweisen. Die andere Kultur ermöglicht uns, die eigenen Wurzeln von außen zu sehen, das heißt: sie bewusst und neu zu überdenken. Das wird im eigenen Land nicht möglich sein. Wirkliche Rückbesinnung auf das Eigene – und ich meine jetzt nicht „Heimweh“ – erfolgt allerdings erst nach ein paar Jahren. Ein Auslandsjahr genügt da nicht.
Wenn Sie Ihren Aufenthalt in Amerika in einem Film nachzeichnen würden, was war die Schlüsselszene für Ihren Verbleib in L.A.?
Da gibt es mehrere. Die erste war die „Pilgerfahrt“ 1976 zu Charlie Chaplin. Die habe ich in meiner Erzählung „Meine Reise zu Chaplin“, die gerade neu erschienen ist, beschrieben. Die zweite würde, wenige Jahre später, in einem kleinen Dachzimmer auf North Harper Avenue in West-Hollywood spielen. Ich saß damals gerade an einem Drehbuch, einer Neufassung von Goethes „Werther“, einer Liebesgeschichte zwischen einem Deutschen, der eine in Los Angeles lebende Jüdin kennenlernt, sich verliebt und ihr in die USA nachreist. Über das, was mit mir bei der Arbeit geschah, habe ich in „Die amerikanische Fahrt“ geschrieben. Damals brach ein Traum in mein Leben, der alles veränderte.
Das Kino hatte einen wesentlichen Einfluss auf Ihre Biografie. Heute sind Sie einer der bedeutenden Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur, aktuell vorgeschlagen für den Deutschen Buchpreis 2012. Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass Ihr Weg hierhin führen könnte?
Erst Ende der achziger Jahre. Ich hatte eine Hörspiel-Trilogie für den deutschen Hörfunk geschrieben, die dann auch von Suhrkamp veröffentlicht wurde. Bei Film-Drehbüchern musste man sich immer mit Produzenten rumschlagen. Man musste Kompromisse machen. Oder – wie das bei Kollegen der Fall war – das Drehbuch wurde von anderen umgeschrieben. Suhrkamp nahm mein Manuskript einfach an – „Das machen wir“, hieß es damals. Und so war es bis zum letzten Buch, das dort erschien, der Weihnachtsgeschichte „Lichternacht“. Das Wichtigste war mir, dass wortgetreu „produziert“ wird, was ich schreibe. Als Drehbuchautor muss man auf dieses Privileg zu oft verzichten.
Was hat Sie zurück nach Deutschland geführt?
„Sunrise – Das Buch Joseph“ war nach sechs Jahren Arbeit endlich fertig geworden. Ich hatte schon 2006 geahnt, dass in Los Angeles etwas zu Ende geht, ein Kreis sich hier schließen würde. Aber während der Arbeit an „Sunrise“ war an einen größeren Umzug gar nicht zu denken. Kurz vor Beendigung des Buchs kamen dann auch gewichtige Träume hinzu – die eindeutig auf „Deutschland“ deuteten und mir Kraft gaben, den Weg zurück zu wagen.
Sie werden in Königstein Passagen aus „Lichternacht“ und aus „Sunrise – Das Buch Joseph“ lesen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen beiden Büchern?
„Lichternacht“ ist eine moderne Josephsgeschichte. Sie spielt an einem Weihnachtsabend der 70er Jahre in der Bronx, einem Stadtteil New Yorks. Eine deutsche Wochenzeitung hatte mich Ende 2004 gebeten, eine „Weihnachtsgeschichte“ zu schreiben. Die Beschäftigung mit der Figur des Joseph – in „Lichternacht“ hieß er „Joe“ – löste bald darauf intensive Träume aus. Träume, die mir zeigten, dass hinter der modernen Weinachtsgeschichte eine weitaus größere, viel tiefer liegende immer noch wartete: Es ist die Geschichte dieses archetypischen Joseph, der uns über die Jahrhunderte hinweg eigentlich völlig verborgen geblieben ist und über den wir kaum etwas wissen. Dabei steht er uns aber – das war die schönste Entdeckung bei der Arbeit am Stoff – viel näher als alle anderen Mitglieder der Heiligen Familie. Das Geheimnis des Joseph ist – unseres.
„Sunrise – Das Buch Joseph“ hat für Aufsehen im deutschen Literaturbetrieb gesorgt. Sie wurden im Feuilleton der deutschsprachigen Presse begeistert gefeiert. Wie finden Sie zu den Ideen, die ein solches Buch ausmachen – oder wie finden die Ideen zu Ihnen?
Letzteres ist der Fall. Etwas hält mich fest, fasziniert mich, lässt mich nicht mehr los. Bei „Sunrise“ war es – unter anderem – ein Bild, eine Urszene, die Josephs Leben bestimmt und den größten Konflikt stiftet. Sein Leben wird umgeworfen, umgeformt. Ich darf nicht verraten, worum es sich handelt. Es ist dann ganz wichtig – für den Autor – herauszufinden, warum ihm dieses Bild „erschien“ und nicht etwa ein anderes, was es gerade mit ihm zu tun hat, warum es so tiefe Emotionen in ihm auslöst – und warum es ihm heute bewusst wird, dieses „Urbild“, und nicht schon vor zehn Jahren. Generell würde ich sagen: Bilder, wie sie mir als Autor einkommen, sind Aufträge, sind „assignments“, wie man im Amerikanischen sagen würde – also wörtlich: Bilder sind immer „mir Zugeschriebene“. Ihr „Auftrag“ besteht darin, von mir schriftstellerisch gedeutet, das heißt: mit Verstand und Gefühl, mit Intuition und Empfindung betrachtet und dann – in welcher Form auch immer – als eine Geschichte „ausgetragen“ zu werden. Verwirklicht zu werden. So ergibt sich die Handlung eines Romans, ein ganzes Leben – das eigene inbegriffen.
In der Sprache Ihres Buchs scheinen die Erzählungen Homers anzuklingen. Der Aufbau der dramatischen Szenen und der mitreißenden Spannungspassagen erinnert häufig an Action-Szenen aus dem Film. Setzen Sie diese Stilmittel bewusst ein?
Da habe ich sicherlich vom Film, von der Filmschule gelernt. Ich denke und schreibe eigentlich szenisch. Ich muss immer genau wissen, „wie es aussieht“ – filmisch würde man sagen: Wie die Figuren zur Kamera stehen und wie eingeleuchtet wurde. Ich sehe eine Szene dann vor mir „wie einen Film“. Manchmal fällt der Punkt am Satzende wie ein „Cut“. Die Szenen-Details bauen wie aneinandergereihte Schnitte bild-logisch aufeinander auf. Ich lese mir das Niedergeschriebene auch immer laut vor: nicht nur um das Sprachlich-Klangliche abzuhören, sondern vor allem um zu prüfen, ob es so im Nacheinander der Bildeindrücke auch zu sehen ist.
Joseph. Der Mann, der auf seine Träume hört und sich von ihnen leiten lässt. Der Joseph des Neuen wie des Alten Testaments der Bibel. Hat die Tetralogie von Thomas Mann für Ihren Joseph eine Rolle gespielt?
Ich habe die Joseph-Bücher Thomas Manns Mitte der 80er Jahre in Los Angeles gelesen. Ich war tief beeindruckt. Sicherlich haben sie mich beeinflusst – auch wenn ich das nicht konkret zu belegen wüsste.
Sie erzählen eine ganz eigene Geschichte des Joseph, verweben Erzählungen der gesamten Bibel zu einem eigenen Werk, setzen Ihre ganz eigenen Schwerpunkte und dennoch geben Sie keine Antworten, wo die Bibel Fragen offen lässt. Wie gelingt es Ihnen als Autor, dieser Versuchung zu widerstehen?
Wenn Sie mit jenen „offenen Fragen“ die Mysterien unseres Glaubens meinen, stimme ich Ihnen zu. Denn gerade um die geht es mir ja – die sind nicht wegzuerklären. Sie wären aber... nein, etwas von ihnen wäre aber – mit Demut und in menschlichen Grenzen – vielleicht zu erfahren.
Dann danken wir Ihnen für das Interview und freuen uns auf den Abend mit Ihnen in Königstein.