Von Königstein nach Peru

Königstein
– Sie sind „Herzensabenteurer“ und engagieren sich für ein Jahr als Praktikant in den Projekten des Königsteiner Vereins „Herzen für eine neue Welt.“ Auch der Königsteiner Konrad absolviert gerade seinen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst in Peru, genauer gesagt im Kinderdorf „Munaychay“. Nachfolgend sein erster Erfahrungsbericht, der einen guten Eindruck darüber verschafft, was es für junge Menschen bedeutet, wenn sie Verantwortung übernehmen.

Liebe Leser,

wie viel Zeit haben Sie, diesen Erfahrungsbericht zu lesen? Passt er in das System der effizienten Zeitnutzung hinein? Einen wie langen Text haben Sie Lust zu lesen? Wäre es nicht besser, einfach Herzen für eine neue Welt durch eine Spende zu unterstützen, ohne aber Zeit für den Bericht zu verplanen?

Aber mit diesem Bericht möchte ich diese vier Fragen mit einem „No!“ beantworten. Denn es geht auch anders. Nehmen Sie sich die Zeit zum Lesen. Kosten Sie die Freiheit aus, einfach mit Ihrer Zeit anzufangen, was Sie wollen, auch wenn Sie das Gefühl haben, dass das restliche Geschehen an Ihnen vorbeizieht und Sie etwas Wichtiges verpassen.

So mache ich das gerade. Und ich habe nichts Wichtiges verpasst. Vielmehr sind die Sachen, die ich gemacht habe, wichtiger, schöner und Freude bereitender geworden.

Vor circa drei Wochen ist das Gros an neuen Freiwilligen, „wir“, in Urubamba angekommen, dem Ort, wo wir für ein Jahr leben werden. In Urubamba? Nein. Unsere Geduld sollte noch etwas auf die Probe gestellt werden und mit uns wurde außerhalb von Urubamba ein Willkommens-Seminar gemacht. Ich war etwas enttäuscht, nicht direkt meine neue Wohnung, das neue Umfeld und die Menschen hier kennenzulernen. Deshalb bin ich in einer Mittagspause zu Fuß nach Urubamba gezogen, um mir die Stadt und das Treiben dort anzuschauen. Doch ich wurde wieder enttäuscht. Es war Generalstreik und Urubamba war bis auf einige Straßensperren wie leer gefegt.

Umso stärker war der Eindruck, den die Landschaft und das Klima auf mich machten. Riesige braun-grüne Giganten mit Gletscherkronen umragen das Tal. Eine ganz neue Größendimension herrscht hier im geografischen Relief. Durch das Tal zieht sich der Rio de Urubamba, zu dessen Seiten sich entweder große Äcker entwickeln, die meistens noch mit Ochsen bewirtschaftet werden, oder sich Siedlungen oder Städte erstrecken, die sich durch nicht fertig gestellte Häuser, oberirdische Stromleitungen und meist enge und dreckige Straßen, auf denen vereinzelt Straßenhunde liegen, auszeichnen. Es ist im Vorhinein unfassbar, wie schnell einem dieses Ambiente vertraut wird.

Einige Tage später bin ich endlich nach Munaychay, dem Herz des Herzensprojekts, gekommen, wo ich jetzt auch wohne. Die ersten Eindrücke: Viele begeisterte Kinder. Quirlige Stimmung. Umarmung hier, Handschlag da, kleines Kind am Bein dort. Mir ist eiskalt, aber das wird jetzt ausgeblendet. Die Milchstraße gibt es wirklich und hat ihren Namen verdient. In den folgenden zwei Wochen ist uns vieles von den „alten“ Freiwilligen vorgestellt worden. Das Kinderdorf, unsere Häuser, die wir besonders betreuen, unsere anderen Projekte. Ich arbeite zum Beispiel viel im Behindertenprojekt, wo wir Gemeinschaft unter den „Beneficiarios“, deren Rechte, deren Gesundheit und deren Selbstständigkeit erreichen möchten.

Die in diesem Zuge zu machenden Hausbesuche sind äußerst aufregend. Man geht einfach in die entsprechende Stadt, fragt sich im Zweifelsfalle zum richtigen Haus durch, wird dort mit etwas Obst freundlich empfangen und redet dann auf einer Sprache, die man nicht wirklich kann und wo man noch weniger die hiesige Mundart versteht, ein bis zwei Stunden über alles Mögliche mit den Besuchten – über das gegenwärtige Befinden, die Probleme, dass ich so schlecht Spanisch spreche, warum man nicht zu dem Ausflug oder dem Kochworkshop gekommen ist, wie „bonito“ die Landschaft ist und dann – wenn es sein muss – alles wieder ein zweites Mal. Ich danke an dieser Stelle den alten Volus nochmal sehr für die beiden Einführungswochen, ihr seid echt beeindruckend – jeder auf seine Weise.

Jetzt sind die alten Freiwilligen schon seit einer Woche weg und ich möchte von meinem heutigen Arbeitstag berichten: Von acht Uhr bis 13 Uhr habe ich: Eine DIN A 4 Seite ausgedruckt! Man hätte sagen können, das sei unproduktiv gewesen – das war es ergebnisorientiert gesehen auch – aber niemand hat es getan. Und wieso? Weil jeder absolutes Verständnis dafür hat, dass das Internet überlastet ist, der Computer nicht funktioniert, die Druckerpatrone statt rot grün druckt, die notwendigen Personen nie da sind, wenn man sie akut braucht – vielmehr ist mein gesamter Vormittag mit Vergnügen wahrgenommen worden.

Man hilft und arbeitet vor allem als Freiwilliger dort, wo akut Unterstützung und Einsatz gefordert sind – und alles funktioniert, auch wenn irgendein Plan oder eine Verabredung nicht eingehalten werden. Denn dort, wo eine Möglichkeit unmöglich wird, weitet sich der Raum für andere Aktivitäten und es versiegt auch nicht der Ansporn, trotzdem sein Ziel zu erreichen. Und sei es, ein einziges Blatt Papier auszudrucken. (Ich muss gestehen, dass ich die Zeit des Wartens heute mit diversen anderen anfallenden Dingen gefüllt habe.) Die Arbeit macht Spaß, ich freue mich über jede neue Erfahrung hier, die Menschen sind freundlich und bei all dem hat man das Vertrauen, dass die gesetzten Ziele irgendwie funktionieren werden und wenn nicht, das auch nicht schlimm ist, weil sich mit genügend Einfallsreichtum immer Alternativen finden lassen. Ich bin sehr gespannt, ob und wann das große erste Gegenbeispiel geschieht. Nach lediglich drei Wochen lauern hier noch zahlreiche große bis kleine Überraschungen auf einen. Zum Schluss noch eine Frage? Was haben Sie in der Zeit des Lesens dieses Berichtes verpasst? Leider lesen diesen Text zum großen Teil Personen, die sowieso Zeit haben. Überzeugen Sie eine andere Person davon, dass Zeit flexibel ist!

Viele Grüße aus Peru!

Konrad Reichel



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