Schüler spielten den ersten Mauerschützen-Prozess nach

Das Urteil der Schüler der Jahrgangsstufe 9 des Taunusgymnasiums fiel am Ende härter aus als der echte Prozess.

Königstein – Am 5. Februar 1989 traf Chris Gueffroy eine Gewehrkugel ins Herz, weil er versuchte, die Berliner Mauer zu überwinden, um die DDR zu verlassen. Der Autor Roman Grafe und die Geschichtslehrerin Susanne Nowka sind dabei, als Schüler der 9. Jahrgangsstufe des Taunusgymnasiums Königstein ein Vierteljahrhundert später versuchen, sich in die Lage der Beteiligten hineinzuversetzen. Im Rollenspiel „Erster Mauerschützen-Prozess“ wollen sie eine Antwort auf die Frage finden, welche Schuld der Todesschütze trägt. Hat er nach den Gesetzen der DDR rechtens gehandelt? Hätte er auf sein Gewissen hören und sich den Befehlen widersetzen sollen? Kann man ihn in der Bundesrepublik im Nachhinein bestrafen? Und wenn ja, wie hoch soll das Strafmaß ausfallen?

Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten. Für viele ist die Ermordung eines Menschen niemals rechtens, da man damit gegen jegliche moralischen Werte verstößt. Doch es ist nicht leicht, sich in der heutigen Zeit in die Lage von damals hineinzuversetzen. Für die Jugendlichen von heute ist es selbstverständlich, Deutschland verlassen zu können, ohne dabei sein Leben zu riskieren. Chris Gueffroy wusste schon mit 20 Jahren genau, dass er in der DDR nicht alt werden würde. Er hatte das System durchschaut und wollte nach West-Berlin, um dort ein Restaurant zu eröffnen. Neun Monate bevor die Mauer fiel, versuchte Chris Gueffroy mit seinem Freund Christian Gaudian zu flüchten.

Angeklagter sucht Schuld bei Gueffroy

Stille herrscht im Gerichtsaal. In Gedanken kann sich jeder vorstellen, wie es im echten Mauerschützenprozess war. Der Vorsitzende Richter, weitere Richter und Schöffen, auch Staatsanwälte und Verteidiger werden von Schülerinnen und Schülern dargestellt.

Die Anklage wird verlesen, sie lautet auf Totschlag. Auf der Anklagebank nimmt der Schüler, der den Todesschützen spielt, mit seinen Verteidigern Platz. Der Angeklagte sagt, dass es seine Pflicht gewesen sei, dem Staat zu dienen und die Befehle auszuführen. Sein Verteidiger fügt hinzu, dass sein Mandant „so erzogen worden sei“. Auf die Frage, warum er genau ins Herz geschossen hat, antwortet der Angeklagte, dass es Notwehr gewesen sei. Chris Gueffroy hätte ein Attentat auf ihn verüben können. Dies wird von der Nebenklägerin Karin Gueffroy, der Mutter des Getöteten, und ihrer Anwältin als unwahr zurückgewiesen.

„Was macht man mit jungen wilden Pferden? – Erschießen?“

Im ersten Kapitel von Roman Grafes Buch „Prozesse gegen DDR-Grenzschützen und ihre Befehlsgeber“ (Siedler 2004) schildert er den Tod von Chris Gueffroy und berichtet von der Vernehmung von Chris´ Mutter: Ein Uniformierter fragte sie ein paar Tage nach dem Tod ihres Sohnes, was man denn mit jungen wilden Pferden machen solle, die man nicht bändigen könne. „Man erschießt sie einfach?“, fragte Karin Gueffroy. Daraufhin nickte der Uniformierte.

Diese Äußerung zeigt, welchen Einfluss die SED in der DDR hatte: Es wurde versucht, den Menschen jegliches Gefühl von Moral zu nehmen. Die SED wollte ihre Macht um jeden Preis erhalten.

Schüler-Urteil ist härter als 1992

Im nachgestellten Prozess fällt der Vorsitzende Richter das Urteil: Der Todesschütze muss 6 Jahre in Haft und eine Psychotherapie machen, um seine moralischen Grundwerte wiederzufinden. Im Gegensatz zu dem richtigen Urteil von 1992 – zwei Jahre auf Bewährung – ist dieses Urteil vergleichsweise hart. Manche Schüler fanden das Urteil zu milde, die Mehrheit war einverstanden.



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