Dankbar für die Sicherheit – doch die Sorge um Familienangehörige bleibt

Das freundliche Lächeln für die Kamera darf nicht darüber hinwegtäuschen, welches Leid mit der Flucht aus der Ukraine verbunden ist. Die Angst um ihre Familie ist für Irina Bohatenkova, Kseniia Rudiak, Arina und Milana allgegenwärtig und bestimmt ihren Alltag. Das Königsteiner Ehepaar Dr. Elena Reifart (links) und Prof. Dr. med. Prof Dr. Nicolaus Reifart (rechts) unterstützen mit viel Herz und Engagement.

Foto: Scholl

Königstein (gs) – Die Hilfsbereitschaft für die geflohenen Familien aus der Ukraine ist auch bei der Königsteiner Bevölkerung groß. Neben den Geld- und Sachspenden, die u. a. über die Ukrainehilfe Königstein gesammelt werden, gibt es in der Bevölkerung auch eine große Bereitschaft, geflüchteten Familien privaten Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Den Schritt zu gehen und fremde Menschen in das eigene Heim aufzunehmen, erfordert Mut und großes Einfühlungsvermögen, denn niemand weiß, wie es sich „anfühlt“, aus einem Kriegsgebiet fliehen zu müssen. Das Ehepaar Reifart ist diesen Weg gegangen und stellte fest, dass manches nicht ganz so einfach ist, wie man es sich vorstellt – es für viele Fragen und Anforderungen aber durchaus Lösungen gibt!

Das Ehepaar Dr. Elena und Prof. Dr. med. Prof. Dr. Nicolaus Reifart hat seine berufliche Heimat in der Welt der Medizin. Während Dr. Elena Reifart Geschäftsführerin einer Gesellschaft für den Vertrieb medizinischer Produkte ist, hatte Prof. Dr. med. Prof. Dr. Nicolaus Reifart viele Jahre die Funktion des Leiters der Medizinischen Klinik I (Kardiologie) in den Kliniken des Main-Taunus-Kreises inne. Darüber hinaus lehrte er an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität in Frankfurt.

Sprache als Bindeglied

Das besondere Augenmerk des Ehepaares auf die Kriegsgeschehnisse in der Ukraine ergab sich daraus, dass Elena Reifart kasachische Wurzeln hat und aus diesem Grund russisch spricht. Gut vernetzt in der russischsprachigen „Community“ in Königstein ereilte sie Anfang März ein Hilferuf via WhatsApp – eine ukrainische Familie befinde sich auf dem Weg nach Deutschland und benötige dringend Hilfe. „Ich habe nicht lange gezögert und wollte unbedingt helfen“, beschreibt Elena Reifart ihre Motivation, Kontakt aufzunehmen und Hilfe anzubieten. Gemeinsam bereitete das Ehepaar die Ankunft der Geflüchteten vor und wusste dabei erst einen Tag vor deren Ankunft, wer eigentlich zu ihnen kommt.

Traumatischer Kriegsbeginn

Am 10. März schließlich trafen die Geflüchteten bei Familie Reifart ein – müde aber glücklich, endlich in Sicherheit zu sein. Irina Bohatenkova (53 Jahre), ihre Tochter Kseniia Rudiak (29 Jahre) sowie die beiden Enkelkinder Milana (6 Jahre) und Arina (1 Jahr) waren Ende Februar gemeinsam aus der Ukraine geflohen und hatten alles zurückgelassen – ihre Heimat, ihren Wohlstand, ihre Ehemänner und wohl auch ihr bisheriges Leben. Die Familie wohnte in der Stadt Mykolajiw, die zwischen Odessa (100 km) und Cherson (60 km) an der Schwarzmeerküste liegt. Mit ca. 480.000 Einwohnern war das Industriezentrum mit Marinebasis und Militärflughafen bereits am ersten Tag des Krieges Ziel russischer Angriffe. „Ich hörte Explosionen und bin auf den Balkon gegangen, um nachzusehen. In der Ferne sah ich Feuer in der Nähe des Flughafens und dann habe ich die Flugzeuge gesehen … und da dachte ich: Etwas hat begonnen, aber ich wusste nicht was“, mit diesen Worten beschreibt Kseniia ihren ersten Eindruck von den Geschehnissen am 24. Februar 2022 – dem Tag des russischen Einmarsches in die Ukraine. „Ich habe sofort meine Familie und Freunde angerufen – alle erzählten mir das Gleiche und im Hintergrund waren Explosionen zu hören!“ Schon lange beobachteten die Einwohner die Truppenverlagerungen der russischen Armee mit Sorge und „da wussten wir, dass der Krieg angefangen hat“, schildert sie die ersten Stunden des Tages, an dem ihr altes Leben beendet war und ein neues, unbekanntes begann. Schnell sei klar gewesen, dass sie mit ihren beiden Kindern weg müsse. Sie packte ein paar Sachen – hauptsächlich für die Kinder – und verließ das Haus, um zunächst in einem Keller, unweit der eigenen Wohnung im Hochhaus, Schutz zu suchen.

Auf der Flucht

Einen Tag später informierte der Bürgermeister der Stadt Mykolajiw die Bürger, dass die Brücken, welche zu den Hauptverkehrsadern der Stadt gehören, vermint und gesperrt werden, um die russischen Truppen an ihrem Vormarsch Richtung Odessa zu hindern. Frauen und Kinder wurden aufgefordert, die Stadt zu verlassen – ihre Ehemänner mussten bleiben.

Auf sich alleine gestellt setzten sich die beiden Frauen mit den Kindern in das Auto, um über Odessa Richtung Moldawien zu fliehen. „Die Menschen in Moldawien sind nicht wohlhabend und trotzdem haben sie uns an der Grenze empfangen und mit Lebensmitteln und Babynahrung versorgt“, schildert Kseniia die erste Etappe ihrer Flucht. Zusammen blieben die Frauen zwei Wochen in Moldawien, bevor sie aus Angst vor einem „Durchmarsch“ der russischen Armee – das Land verfügt nicht über eigenes Militär – Richtung Rumänien weiterfuhren. Unterstützt durch viele persönliche Kontakte und die Hilfe, die ihnen an jeder europäischen Grenze zu Teil wurde, erreichten die Frauen auf ihrer langen Flucht über Ungarn und Österreich schließlich Deutschland. „Es war so schwer und schwierig, das Auto ging kaputt und wir wussten nicht, ob und wie wir es schaffen können“, sind die Worte, mit denen Kseniia – um Fassung ringend – von ihrer Flucht berichtet.

Kontakt zur Heimat

Mit ihren Ehemännern blieben die Frauen die ganze Zeit in engem Kontakt – das Mobiltelefon wurde so auf der Flucht zur einzigen Verbindung „nach Hause“. Zuhause, so berichtet Kseniia, werde das Internet immer schlechter und der Kontakt zur Familie damit immer schwerer. Bei den Telefongesprächen mit ihren Männern donnern die Geschosse im Hintergrund, es sind Explosionen zu hören und oft gebe es kein Licht. Die Angst um ihre Männer begleitet Irina und Kseniia immer – jede Minute, jeden Tag. Sie legen das Mobiltelefon nie aus der Hand und hoffen bei jedem Klingeln, dass es keine schlechten Nachrichten sind.

In Sicherheit

In Königstein wohnt die Familie nun in zwei geräumigen Zimmern im Haus der Familie Reifart. In dem großen Haus sind sie überall willkommen, können ausruhen – zur Ruhe kommen und sich sammeln. Die Schrecken, Ängste und Strapazen der Flucht sind ihnen anzumerken. Sie sind müde, sorgenvoll und trotzdem unendlich dankbar, in Sicherheit zu sein. Familie Reifart tut ihr Bestes, um den Frauen zumindest die Existenzsorgen zu nehmen. „Die Hilfsbereitschaft uns vollkommen fremder Menschen war überwältigend“, erzählt Elena Reifart. Als bekannt wurde, dass das Ehepaar zwei Frauen und zwei Kinder aufnehmen würde, boten viele Menschen ihre spontane Hilfe an – Familien brachten Kinderbekleidung und Spielzeug, ein Babybett für die kleine Arina wurde kurzerhand gekauft und auch eine Kinderkarre hat bereits ihren Platz im Flur des Hauses gefunden. Auf gemeinsamen Spaziergängen versucht das Ehepaar, den Frauen etwas Ruhe zu geben, hört sich ihre Sorgen an und nimmt Teil an ihren Gedanken, aber auch ihren Ängsten. „Physisch sind wir hier – unser Herz und unsere Seele sind bei unseren Männern“, beschreibt Kseniia Rudiak ihre Gefühle.

Was die Zukunft bringt

Niemand weiß, wie lange Irina, Kseniia, Milana und Arina in Deutschland bleiben (müssen) – irgendwann möchten sie aber zurück in ihre Heimat. Bis es soweit ist, möchte Kseniia auf jeden Fall Deutsch lernen, um selbstständiger zu werden und aktiver leben zu können. Irina meint dazu, dass sich die jungen Leute sicher sehr gut einfügen werden, für sie sei es jedoch schwierig und eigentlich möchte sie nur nach Hause zurück. Oft habe sie den Eindruck, dass die Menschen nicht verstehen, dass „dies wirklich ein ECHTER Krieg ist“. Die Ukrainer, so fügt sie an, haben alles verloren – ihr Leben werde nie wieder so sein wie vorher!

„Wir müssen schützen, was wir haben und dürfen es nicht als Selbstverständlichkeit hinnehmen“, antwortet Kseniia auf die Frage, wie es in ihr drinnen aussieht. „Wir (die Ukrainer) haben diese Möglichkeit nun nicht mehr. Wir werden zwei Leben haben: Eines vor dem Krieg und eines danach“. Ihr größter Wunsch? – Dass ihre Kinder mit ihrem Papa aufwachsen können!



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