„Sie haben nicht für ihre Meinungsfreiheit gekämpft, um sie heute aufzugeben“

Gruppenbild zum Abschluss: Beatrice Schenk-Motzko, Dr. Michael Hesse, die Preisträgerinnen Karoline Preisler und Marianne Birthler, Laudator Alois Theisen und Jörg Pöschl nach der Verleihung des Eugen-Kogon-Preises.Fotos: Schramm

Königstein (as) – Sie sind Kämpferinnen für Demokratie und Freiheit, sie haben sich nie den Mund verbieten lassen, wenn sie einst mit Zivilcourage der Obrigkeit in der DDR die Stirn boten und wenn sie heute, wo sich der Populismus und Extremismus immer mehr Bahn brechen, das Wort erheben gegen die Gefährdungen der Demokratie von innen und von außen. Marianne Birthler und Karoline Preisler sind als Stimmen aus der Mitte der Gesellschaft heraus, beinahe auf der Ebene des „Normalbürgers“, zwei Persönlichkeiten in der deutschen politischen Öffentlichkeit – und seit Freitag sind sie Trägerinnen des Eugen-Kogon-Preises, den die Stadt Königstein für besonderes Engagement für die Demokratie verleiht. Der renommierte Preis, der seit 2002 unter anderem dem früheren polnischen Außenminister Władysław Bartoszewski, Hildegard Hamm-Brücher, 1994 Kandidatin für das Bundespräsidentenamt, dem tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel und zuletzt im Jahr 2019 der Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller verliehen wurde, erlebte am Freitag bei einer feierlichen Zeremonie vor rund 200 Gästen im Großen Saal des Hauses der Begegnung seine gleich doppelte Wiederaufnahme nach allzu langer Corona-Pause. Aus Basel angereist war Beate Kogon, Enkelin des Namensgebers des Preises, des deutschen Publizisten Eugen Kogon (1903–1987), der die Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald als dessen Insasse erlebte, mit seinem Standardwerk „Der SS-Staat“ das Wissen und moralische Gewissen im Deutschland der Nachkriegszeit prägte und bis zu seinem Tod in Falkenstein lebte.

Die Preisträgerinnen

23 Lebensjahre trennen Marianne Birthler (Jahrgang 1948) und Karoline Preisler (Jahrgang 1971), und doch gibt es einige Parallelen in den Lebensläufen der beiden Preisträgerinnen. Diese arbeitete Alois Theisen in seinen beiden Laudationen heraus. Der ehemalige Fernsehchefredakteur des Hessischen Rundfunks, früher selbst Mitglied des Kuratoriums des Eugen-Kogon-Preises, führte aus, dass beide Frauen im geschützten Raum der evangelischen Kirche der ehemaligen DDR politisch aktiv geworden waren und dort begannen, die Zustände in ihrem Land zu hinterfragen und sich für mehr Freiheiten im SED-System einzusetzten. „Wir sind alle hier, weil wir Hoffnung haben“, zitierte Theisen einen prägenden Satz Marianne Birthlers, den sie, damals 41 Jahre alt, am 4. November 1989 bei der größten genehmigten Kundgebung der DDR-Geschichte in Ost-Berlin vor Tausenden ins Mikrofon rief. Man müsse darüber nachdenken, wie Strukturen geschaffen werden könnten, die verhindern, dass friedliche politische Proteste nicht weiter niedergeknüppelt werden, war eine der Forderungen Birthlers. Theisen wertete diese Forderung in der Retrospektive als „eine Revolution“. Sie wollte nur eine bessere DDR, aber die Dynamik war längst nicht mehr aufzuhalten: Fünf Tage später fiel die Mauer, Marianne Birthler blieb aktiv und bereitete dem Zusammenschluss „ihres“ Bündnis 90 mit den Grünen im Westen den Weg, wurde Bildungsministerin in Brandenburg und trat 1992 von ihrem Posten zurück, weil Ministerpräsident Manfred Stolpe seine unwiderlegbaren Stasi-Kontakte herunterspielte („Überzeugung vor Staatsamt“) und wurde schließlich als Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen und durch ihre Auseinandersetzung unter anderem mit Gregor Gysi bundesweit bekannt.

Eine Stasi-Akte hatte sie bereits mit 13 Jahren. Das erzählte Karoline Preisler vorher am Rande der Preisverleihung. Sie sei immer ein sehr politischer Mensch gewesen und habe noch „eine gute Packung DDR mitbekommen“. Sie habe die friedliche Revolution in der demokratischen Masse miterlebt, die später aus dem Land ausgewiesene Bürgerrechtlerin Freya Klier lebte in Berlin-Friedrichshain in ihrer Nachbarschaft. Sie nennt es „Graswurzelbewegungen, die die Welt verändern“– und auch heute, wo man sich zu ihrem Missfallen fast schon an ein „rechtes Grundrauschen“ in der Gesellschaft gewöhnt habe, ist sie der Meinung, dass sich der Mensch einmischen muss und sich nicht darauf verlassen kann, dass die Politik dies übernimmt. „Wir Bürger dienen nicht mehr selbstverständlich der Demokratie. Aber wir haben einen Job als Bürger. Die Demokratie lebt vom Diskurs“, ist Karoline Preislers deutlicher Appell. Deshalb stellt sie sich auch heute als Juristin, ehrenamtliche Politikerin mit FDP-Parteibuch und als Aktivistin rechtsextremistischen und zunehmend antisemitischen Gruppen mutig entgegen, oft als „Ein-Mann-Demonstration“ allein mit einem Schild. Sie wurde dadurch zur Zielscheibe von Extremisten, sogenannten Querdenkern und islamistischen Gruppen, steht auf „Todeslisten“, in ihr Haus wurde eingebrochen und in die Wohnungsdecken wurden mit einem Bunsenbrenner Hakenkreuze eingebrannt. Es gibt in den Sozialen Netzwerken aber auch Kommentare wie „Ich knie nieder vor dem Mut dieser Frau“.

Mit 17, 18 Jahren sei sie aber nur „eine der geringsten Graswurzeln“ gewesen, sagte sie im Rückblick, deswegen sei es ihr auch eine große Ehre, gemeinsam mit Marianne Birthler geehrt zu werden. Aber durch ihre kritischen Fragen im Schulunterricht, der in der DDR kein geschützter Raum war, wurde ihr Vater vom SED-System kaltgestellt, durfte als Technik-Redakteur nicht mehr zur Leipziger Messe oder in den Westen. Das habe er sie aber nie spüren lassen. „Als ich dachte, ich rette die Welt, habe ich seine Welt enger gemacht.“

Trotz ihrer unterschiedlichen Biographien stehen beide Frauen für den „Freiheitsdrang der Massen, der die Mauer zum Fallen gebracht hat“. Und Theisen würdigte als zentrale Gemeinsamkeit, dass beide „nicht für ihre Meinungsfreiheit gekämpft haben, um sie heute aufzugeben“.

Die Preisverleihung

Für die musikalische Einrahmung einer äußerst gelungenen und von der Stadt – namentlich erwähnt wurden Anke John, Mia Neumann und Stefanie Schwaner – würdevoll gestalteten Preisverleihung im lichtdurchfluteten Großen Saal im Haus der Begegnung zeichneten Lehrer und Schüler der Musikschule Königstein verantwortlich. César Bischoff eröffnete den Abend am Piano mit dem zum Nachdenken anregenden Solo­stück Nocturne Op. 37 Nr. 1, ehe Stadtverordneter Dr. Michael Hesse als Vorsitzender des Kuratoriums des Eugen-Kogon-Preises und Bürgermeisterin Beatrice Schenk-Motzko die Gäste aus Politik und Bürgerschaft, Schulen, Kirchen und der Städtepartnerschaften begrüßten. Hesse zitierte Kogons Satz „Wir waren naiv“, benannte die „Symptome eines zunehmenden gesellschaftlichen Monismus mit wachsender Gewaltbereitschaft“, die die Demokratie heute bedrohen und endete mit dem Schlusswort der ersten Rede des neuen Papstes Leo XIV.: „Das Böse wird nicht siegen“. Schenk-Motzko stellte Königstein als einen Ort heraus, an dem Menschen immer eine Zuflucht für das Kraftholen, das Denken und das Schreiben gefunden hätten – so wie Eugen Kogon. Der nach ihm benannte Preis sei eine „Hommage an Menschen, die diese Haltung in sich tragen und leben“.

Als Preisträgerin für das Jahr 2022 wurde nach Theisens Laudatio Marianne Birthler auf die Bühne gebeten, die neben der Urkunde für den mit 5.000 Euro dotierten Preis als erste Preisträgerin auch die neu eingeführte Eugen-Kogon-Medaille in Empfang nehmen durfte und sich im Goldenen Buch der Stadt Königstein eintrug. „Ich habe mich gefragt, wie es Menschen ergangenen ist, die aus einem KZ zurückkamen“, begann sie ihre Dankesrede mit Blick auf Eugen Kogon. Denn sie erinnere sich gut an Neueinstellungen von entlassenen Lehrern in den Schuldienst nach der Wende 1989/90. „Sie wurden auch gemobbt. Leute, die sich gewehrt haben, sind nicht überall mit offenen Armen empfangen worden und haben um Versetzung in eine andere Stadt gebeten.“ Mut sei nicht leicht. Eugen Kogon habe als Publizist, Historiker und Demokrat die Sprache für das Unsagbare gefunden“ – eine Generation, bevor das Interesse an einer Auseinandersetzung mit der NS-Zeit begonnen habe, so Birthler. Man müsse heute wieder lernen, mutig das Wort zu ergreifen. Das lernt man in der Auseinandersetzung und in der Gemeinschaft mit anderen. Für Lügen in einer Demokratie habe sie kein Verständnis. Ihren Preis sehe sie als „Auszeichnung für alle, die sich gegen das Vergessen wehren und Freiheit einen Raum geben. Es kommt darauf an, in der Wahrheit zu leben.“

Nach zwei, nun fröhlichen, musikalischen Intermezzi von Sophia Oellerich an der Querflöte, begleitet von César Bischoff, einem Valse Gracieuse von Wilhelm Popp und einer Sonatina von Gaetano Donizetti, der zweiten Laudatio Theisens und dem Geigenstück „Liebesleid“ von Fritz Kreisler, gespielt von Young-Eun Tsche, beeindruckte die Preisträgerin des Jahres 2024, Karoline Preisler, mit demütigen Worten. „Der Preis ist mir zu groß“, sagte sie mit Blick auf die Liste ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger. „Ich kann nur versprechen, mich weiter anzustrengen, um irgendwann hineinzuwachsen in das Kleid des Eugen-Kogon-Preises.“ Dass sie dies weiterhin tun wird, notfalls unter Gefährdung des eigenen Lebens, daran lässt Karoline Preisler keine Zweifel aufkommen. Sie nutzte eine Reminiszenz an die Zeitschrift „Schönere Zukunft“, die Eugen Kogon zwischen 1928 und 1934 herausgab, für ihren Appell: „Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass Respekt und Diskussionsfähigkeit Pfeiler unserer Gesellschaft bleiben und daran, unsere Zukunft schön zu machen.“

Der musikalische Ausklang, die Slawischen Tänze Op. 72 von Antonin Dvorak, vierhändig gespielt am Klavier von Carl und Alex Wang, schienen der mehrfach zum Ausdruck gebrachten Aufbruchstimmung fast schon Flügel geben zu können. „Es ist beeindruckend, solche Lebensgeschichten zu hören. Das Vermächtnis Eugen Kogons und der heutigen Preisträgerinnen ist ein Ansporn für uns alle“, schloss die Bürgermeisterin mit treffenden Worten eine denkwürdige Veranstaltung, deren Botschaft bei allen, die dabei waren, noch lange – und, das ist zu hoffen, nachhaltig – nachhallen dürfte.

Erster Besuch in Königstein

Sowohl für Marianne Birthler als auch für Karoline Preisler war die Preisverleihung der erste Besuch in Königstein – beide blieben für eine Nacht, Preisler hatte am Samstagmorgen noch eine Signierstunde ihres Buchs „Demokratie aushalten!“ in der Millennium-Buchhandlung, ehe es mit dem Zug zurückging nach Berlin. Beide wussten auch bis vor Kurzem noch nicht, dass Königstein einen Eugen-Kogon-Preis verleiht, gleichwohl waren beiden natürlich die Person und das Wirken Eugen Kogons ein Begriff. Als sie bei der Kontaktaufnahme des Kuratoriums diesen Namen gehört habe, habe sie sich sofort gesagt: „Ja, diesen Preis nehme ich gerne an“, sagte Marianne Birthler. Und Karoline Preisler, die als alleinerziehende Mutter auch häusliche Pflichten habe und daher ihren Aufenthalt nicht verlängern konnte, sagte: „Wenn man einmal in Königstein war, ist man ein bisschen verliebt. Ich komme gewiss wieder.“

Eine Frage mussten die beiden Preisträgerinnen im Gespräch aber noch beantworten: Warum hat es die Demokratie selbst in westlichen Demokratien heute so schwer, sich gegen den Populismus zu behaupten? „Demokratie ist anstrengend und herausfordernd“, sagte Marianne Birthler, „und es gibt Menschen, die Angst vor Freiheit haben.“ Und legte nach: „Wenn sich Putin die Ukraine holt, dann sehe ich schwarz für unsere Freiheit. Putin kämpft nicht gegen die Ukraine, sondern er kämpft gegen die Freiheit.“ Karoline Preisler analysierte das so: „Für viele ist es einfacher, Prozesse, die in der Demokratie anstrengend und dynamisch sind, abzukürzen. Und es ist bequemer, statt selbstkritisch zu sein, einem Populisten zu folgen, der nicht liefern muss, sondern nur Zweifel zu säen braucht.“ Die AfD werde nie in die Lage kommen, die Mehrheit zu haben und liefern zu müssen, glaubt Karoline Preisler. Dennoch ist sie als Juristin dafür, ein Verbotsverfahren gegen die AfD einzuleiten. „Das Ergebnis ist offen, deswegen schadet das Verfahren nicht. Aber jeder Streit, den ich führe, adelt die Demokratie.“

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