Die älteste Mammolshainerin feierte 102. Wiegenfest

Adelheid Reus an ihrem Ehrentag im Kreise ihrer Familie. Foto: privat

Mammolshain (pu) – Das Jahr 1919 wird in den Geschichtsbüchern als wegweisendes bezeichnet, weil etwas mehr als ein halbes Jahr nach dem Ende des bewaffneten Konflikts am 11. November 1918 die deutsche Delegation noch mitten in der Beseitigung der Trümmer des Ersten Weltkriegs am 28. Juni unter Protest den ihr vorgelegten Friedensvertrag von Versailles unterschrieb, der endlich auch formell den Schlusspunkt unter den Ersten Weltkrieg setzte.

Unter diesen fraglos enorm schwierigen Rahmenbedingungen – einer Zeit mit Hyperinflation, zahlreichen Umsturzversuchen und politischen Morden – freuten sich im beschaulichen Mammolshain Eva und Dominik Borgetto am 5. Juli 1919 über die Geburt ihres Töchterchens Adelheid. Den Erzählungen und Erinnerungen nach zu Schulzeiten ein sehr schmächtiges, aber wissbegieriges Kind, dessen anfällige Gesundheit Kuraufenthalte in Weilmünster erforderlich machten. Angesichts dessen hätte zum damaligen Zeitpunkt sicherlich niemand in der Familie auch nur annähernd vermutet, dass dieser Spross, dessen Elternhaus gegenüber der Schule stand, Anfang der Woche im Kreis ihrer Familie das 102. Wiegenfest würde feiern können.

Damit ist sie nach Recherche ihres Sohnes Wolfgang die älteste Mammolshainerin, die zudem noch als erste Einwohnerin des Kastaniendorfs vor zwei Jahren zum magischen Jahrhundert rundete. Am Montag konnte sie auf 37.230 bewegte Tage zurückblicken – eine imposante Zahl! Sie hat einschneidende Geschehen wie die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg miterlebt, die spätere Generationen nur aus den Geschichtsbüchern kennen. Ihre positive Lebenseinstellung und Beharrlichkeit halfen der Jubilarin dabei stets, leider nicht ausgebliebene Schicksalsschläge zu überstehen.

Nach den Kinder- und Jugendtagen in einer Großfamilie mit insgesamt fünf Kindern und dem bestandenen Schulabschluss begann sie dankbar und voller Elan ihre Arbeit in der Fabrik der Ada-Ada-Schuh AG. Ein wegweisender Schritt gleich in doppelter Hinsicht; einerseits sicherte sie sich Lohn und Brot, andererseits fand sie auf diesem Pfad obendrein im benachbarten Neuenhain die Liebe ihres Lebens.

In jene Richtung lief sie, anfangs mit ihrer älteren Schwester, später alleine, bei Wind und Wetter, um am Bad Sodener Bahnhof den Zug nach Höchst erreichen zu können. Praktischerweise lebte in Neuenhain außerdem eine eng mit ihr befreundete Arbeitskollegin, bei der beziehungsweise deren Eltern sie vor allem im Winter, wenn die Wetterbedingungen zu widrig waren, um zu Fuß den Heimweg anzutreten, übernachtete. So kam es, dass die beiden Freundinnen häufig auch in ihrer Freizeit etwas zusammen unternahmen, beispielsweise zum Tanzen zu gehen.

Dabei lernte sie eines Tages den feschen Friedrich „Fred“ Reus kennen, der als guter Tänzer auffiel, beispielsweise den Walzer linksherum tanzen konnte.

Das junge Glück währte allerdings nur relativ kurz, denn 1941 musste der Bräutigam in spe zwecks Ausbildung zum Funker nach Posen (heute wieder Polen) zum Kriegsdienst ausrücken. Da er seine Sache gut machte, wurde er anschließend selbst Ausbilder. Dennoch konnte das junge Paar 1943 in Neuenhain heiraten, träumte davon, nach dem Krieg in Neuenhain zu wohnen und eine Familie mit zwei, drei Kindern zu gründen.

Nach der Hochzeit erhielt der junge Ehemann noch einmal Sonderfronturlaub, nachdem er aus der traurig berühmten Kesselschlacht in Cerkasy/Ukraine lebend herauskam. Seinen neun Monate später im Juli 1944 geborenen Sohn Wolfgang lernte er per Briefwechsel erhaltener Fotos kennen, da er jeden Tag an seine „Heidi“, wie er sie liebevoll nannte, schrieb. Zu Frau und Kind zurückzukehren blieb ihm jedoch verwehrt; Anfang 1945 verlor sich seine Spur. Friedrich Reus‘ Schicksal konnte nie restlos geklärt werden,vermutlich kam er in den ersten Januartagen bei Petrikau/Polen ums Leben.

Nunmehr galt es für die alleinerziehende Mutter, das Einkommen der Familie zu sichern und gleichzeitig ihrem Sohn den Vater zu ersetzen. Glücklicherweise gaben ihr ihre Eltern und Geschwister Halt und halfen unter anderem beim Bau eines eigenen Heims, nur wenige Meter vom Elternhaus entfernt.

Der Schuhbranche blieb sie treu, durch einen Wechsel nach Kronberg wurden die Wege jedoch kürzer.

Adelheid Reus dürfte vielen Mammolshainern bekannt sein, weil sie jahrelang fällige Versicherungsbeiträge persönlich einsammelte, oder auch als leidenschaftliche Sängerin. Denn Letzteres zählt nach wie vor zu den Passionen der Jubilarin, die, wie ihr Sohn Wolfgang im Gespräch mit der Königsteiner Woche verrät, trotz eines vor vier Jahren erlittenen Schlaganfalls, durch den das Sprachzentrum erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden war, die Texte zahlreicher Lieder präsent hat. Neben der aus dem Hause des Papas mitgegebenen Liebe zum Gesang, die sie im Chor weiter entfaltete, faszinierte sie viele Jahre außerdem das aktive Theaterspiel.

Unbedingt erwähnenswert noch ihre drei Halbbrüder, die ihr Vater Dominik aus seiner ersten Ehe mit einer Mammolshainerin, die sehr früh verstarb, mitbrachte. Stolz war sie vor allem auf ihren ältesten Bruder Albert, dem ersten Ortsvorsteher nach dem Anschluss nach Königstein durch die Gebietsreform 1972.

Trotz ihres fortgeschrittenen Alters ist die Jubilarin nach wie vor so aktiv wie möglich. So besuchte sie vor den Pandemiebeschränkungen neben den örtlichen Seniorenveranstaltungen gerne auch andere Feste. Umso härter trafen sie die letzten Monate. Ihre Zuversicht hat sie dennoch nie verloren, sie geht so viel wie möglich an die frische Luft, zupft auch mal spontan Unkraut, und ihr ganzer Stolz sind ihre Enkel Christina und Michael und die Urenkel Brianna, Clara und Paul.

Übrigens für alle, die beim Geburtsnamen womöglich ins Grübeln kamen: Adelheid Reus ist tatsächlich eine geborene Borgetto. Weil im Zuge der Ahnenforschung im Dritten Reich jedoch festgestellt wurde, dass ihr Vater schon vor der Eheschließung auf die Welt gekommen war, nahmen ihr Vater und somit die gesamte Familie umständehalber den Mädchennamen der Mutter an, weshalb Adelheid vor der eigenen Hochzeit dann Bioneck hieß. Unter diesem Namen beziehungsweise Reus kennen sie die meisten Mammolshainer, die am Montag teils auch zum Gratulieren vorbeikamen und ihr weiterhin alles Gute wünschten!



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