Kronberg (pu) – „Ich will leben und nicht vegetieren“, gibt Ingeborg Wolf in aller Deutlichkeit zu verstehen, sie werde auch künftig in ihren Bemühungen nicht nachlassen, dem fortschreitenden Alter und den damit verbundenen Beschwerden Paroli zu bieten.
Die zierliche Weißhaarige zählt seit 24. Juli zum Kronberger Club der 100-Jährigen und erstaunt, seitdem sie im Jahr 2002 ihre schick eingerichtete Wohnung in der Seniorenwohnanlage Rosenhof bezogen hat, ihr Umfeld immer wieder aufs Neue durch ihre Spontanität, Abenteuerlust und Aktivität. Die Jubilarin sprüht vor Esprit, steht für eine Generation, die, sofern es die Gesundheit einigermaßen zulässt, mitnichten im Lehnstuhl abwartet, bis das letzte Stündlein schlägt. Daher hat auch der Kronberger Bote das Interview zwecks Recherche für das Geburtstags-Porträt nicht etwa in den heimischen vier Wänden Ingeborg Wolfs geführt, sondern sie dort besucht, wo sie sich seit 2003 einmal pro Woche zum Training aufhält – im Zentrum für Physiotherapie und medizinische Sporttherapie, reaktiv GmbH. Dort nahm sie vergangenen Montag bei Sekt und Orangensaft Glückwünsche ihrer Mitstreiter der inzwischen schon legendären Montags-Gruppe zu ihrem Jubeltag entgegen. „Sie macht uns tatsächlich allen noch etwas vor“, bringt es einer der Herren schmunzelnd auf den Punkt. Das konnte reaktiv-Teammitglied Eugen Plett nur bestätigen. In seiner Laufbahn als Sportwissenschaftler lernte er eine Reihe betagter sportlich begeisterter Senioren kennen, aber „eine derartige körperliche und geistige Fitness in diesem hohen Alter ist schon etwas Besonderes“, fand er bei der Übergabe von Blumen und Gutschein für lebenslanges medizinisches Aufbautraining Worte der Anerkennung für diese respektable Leistung. Seit zwölf Jahren kurbelt die Jubilarin einmal pro Woche ihren Kreislauf auf dem Ergometer an und trainiert unter anderem ihr Gleichgewicht auf dem Balancebrett.
„Ich bin daran gewöhnt, mich zu bewegen“, erzählt sie von Ballett, Gymnastik und Reiten von Kindheits- und Jugendbeinen an. Zweifellos eine wichtige Basis, doch nicht minder fällt neben der sie prägenden Disziplin das Bewahren von Neugierde und Begeisterungsfähigkeit ins Gewicht. So lernte sie beispielsweise mit 95 Jahren noch das Segeln, „weil ich das mal ausprobieren wollte“, entdeckte spät Krimis als Abendlektüre und schrieb ihre Memoiren. Und gemäß dem Sprichwort „Wer rastet, der rostet“ ist sie bei Bedarf nach wie vor als Innenarchitektin und Dekorateurin tätig. „auch wenn‘s täglich ein wenig weniger wird an Kraft und mehr Gedächtnislücken einen ärgern und man für jeden Handgriff die fünf- bis zehnfache Zeit braucht“.
Ihr Lebensweg begann mitten im Ersten Weltkrieg im Sommer 1915 in Thorn, dem damaligen Westpreußen, wohin Mutter Gertrud zur Entbindung gereist war, während der junge Arzt und Zahnmediziner und nun frisch gebackene Familienvater Matthias Reinmöller im Krieg im Einsatz war. Zur Geburt des Töchterchens schickte dessen Regiment folgendes Telegramm: „Als Rozan und Pultusk die Russen verloren, schenkte Frau Gertrud dem Max ein Mädchen in Thorn. Mög fröhlich Klein-Inge blühn und gedeihn, soll der Wunsch der Kameraden sein!“
Die ersten Schrittchen unternahm die Kleine in Bebra, später lebte die Familie in Rostock.Die Zeiten waren hart, während der Hungerjahre plagten das Mädel fast in jedem Winter Mittelohrentzündungen. „Vielleicht der frühe Ausgangspunkt für meine Schwerhörigkeit, die wohl schon zu Schulzeiten begann und große Löcher in meinem Gedächtnis hinterließ“, schreibt Ingeborg Wolf in ihren Memoiren.
Im Alter von elf Jahren verlor sie die an Blutkrebs erkrankte, geliebte Mutter. Ein herber Schicksalsschlag, von dem sich insbesondere der Vater trotz durch Pioniergeist geprägter beruflicher Karriere und hohem persönlichen Einsatz für den medizinischen Fortschritt und die erforderlichen Rahmenbedingungen sowie seiner Leidenschaft für die Reiterei nie erholen sollte.
Früh entdeckte Ingeborg Wolf ihr Interesse für Mode. Schon auf der Schule wetteiferte sie mit einer Freundin „wer die besten Modelle zu Papier brachte“ und im Gegensatz zur Schulkameradin „stellte ich mir ein Muster vor, dann die Farbe und erst dann folgte der Entwurf“. Das Talent blieb nicht lange verborgen, eine Lehrstelle war bereits vorhanden, aber der Vater legte sein Veto ein mit der Begründung, eine Verkäuferin schicke sich als Professorentochter nicht. Schweren Herzens fügte sich sich damals, lernte Stenografie und Schreibmaschine, begann eine Lehre als Laborantin in einem Fotogeschäft. Keine einfache Zeit und alles andere als das, was ihr eigentlich vorschwebte. Im Nachhinein weiß sie allerdings, so hart diese durch den Vater erzwungene Phase auch gewesen sein mag, war ihr der väterliche Rat stets hilfreich: „Entscheide dich selbst. Überleg gut und triff deine Wahl. Verschieb niemals eine Entscheidung. Falls du einen falschen Weg eingeschlagen hast, gibt es häufig eine Wende oder Umgehung!“
Durch die Vermittlung eines Reiterfreundes gelang der Sprung zum damals besten Möbelgeschäft Rostocks, als Kunstgewerblerin. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs marschierten die Russen in Rostock ein – mit unerwarteten Folgen für die junge Deutsche. Weil sich die Russen in den Kopf gesetzt hatten, ein Schiff in einen Passagier-Luxusliner umzufunkionieren, erhielt der Geschäftsführer des Möbelhauses Besuch. Gesucht wurde ein Innenarchitekt, doch der war im Krieg gefallen. „Wer soll das also machen?“, so die ratlose Frage des Geschäftsführers. Der umher schweifende Blick des Russen blieb an Ingeborg Wolf hängen. „Das Fräulein da, die zeichnet doch.“ Auch das Argument, die junge Frau müsse diesen Beruf erst erlernen, was in der Region mangels Ausbildungsmöglichkeiten unmöglich sei, konnte den Mann nicht beeindrucken. „Schick ihr, wo geht!“, so die Antwort und so wurde Ingeborg Wolf mit ein paar Zeichnungen unter dem Arm und einer Umhängetasche für das Nötigste bei Nacht und Nebel in einer kleinen Gruppe auf Eisenbahnschienen, die keine Züge mehr beförderten, über die Grenze geschickt. Der ersten Station Hamburg folgte aufgrund eines fehlenden Studienplatzes die Weiterreise nach Stuttgart, nach dem Studium die Rückkehr nach Hamburg samt nachfolgender Anstellung.
Die einige Zeit später folgende willkommene Gelegenheit, für einen dänischen Möbelhersteller zu arbeiten, brachte den Umzug nach Frankfurt mit sich. Zu einem der Kunden zählte ein Privatdozent für Neurologie, der bereits kurze Zeit nach dem Kennenlernen für sie völlig überraschend bei ihrem Vater um ihre Hand anhielt – nachdem er zuvor schon heimlich das Aufgebot für den 23. November 1960 bestellt hatte.
„Ich war so perplex und konnte gar nichts sagen. Ich war auch gar nicht verliebt, ich war überrumpelt“, schildert Ingeborg Wolf diese Situation, die sie zur vierten Ehefrau Dr. Richard Wolfs machte. Er starb 1987.
Geblieben sind der Jubilarin auch nach ihrem Umzug nach Kronberg viele Freunde und Bekannte, der Rückblick auf ein Jahrhundert mit mannigfaltigen Erlebnissen, Sie hat sich ihre Begeisterung am Einrichten und Dekorieren, ihren Sinn für Stil und Eleganz und das Bestreben, ihre Kontakte weiterhin zu pflegen, erhalten. „Ich lebe immer noch gerne, auch wenn mich die neue Zeit mit Computer, der Wirtschaftslage und Verfolgungsdramen ängstigt, mit der Rasanz der allgegenwärtigen Umwälzung auf allen Gebieten“, so das Fazit der agilen Seniorin, die dankbar ist, noch alles essen zu können und jeden Tag aufs Neue aller Altersbeschwerden zum Trotz mit positiven Gedanken in den Tag startet und die gehen schließlich jedem guten- und langen Leben voraus … .