Kronberg (mw) – 15 Jahre ist es her, dass Rezitator Oliver Steller das erste Mal auf Einladung von „Ars Vivendi“ nach Kronberg kam, um den damaligen Künstlerkeller von Birgid Groscurth mit gut 30 Personen zu füllen. Zu seinem neuen Programm, „Frag nicht lang“, waren es 300, einige von ihnen Fans seit seinem ersten Auftritt in der Burgstadt, die die Stadthalle auf Einladung des Kronberger Kulturkreises gemeinsam mit Ars Vivendi bis auf den letzten Platz füllten. Bekannt für sein großes schauspielerisches Talent und seine Leidenschaft für Lyrik, präsentierte er dieses Mal sein brandneues Lyrik-Programm „Frag nicht lang“. In seinem Solo-Programm ließ er für zwei Stunden Christian Morgensterns Leben und seine Dichtkunst aufleben. In bewährter Weise mit Gitarre und ausdrucksstarker Stimme, spielte, sang und erzählte Oliver Steller Christian Morgensterns Leben. Drei Jahre lang hat er dafür Daten, Fakten, Briefe und Begebenheiten des Dichters gesammelt, vor allem aber dessen fantasievolle Lyrik durchkämmt. Christian Morgenstern hatte Eltern, die sich ganz und gar der Kunst verschrieben hatten, erfährt das Publikum. Sein Vater war Landschaftsmaler, seine Mutter Pianistin. Am 6. Mai 1871 in München geboren, wird er ein „planloses“, aber schönes Kinderleben führen. „Gleichaltrige Kinder soll er kaum kennenlernen“ und Schule kennt er auch nur in Form von sporadischem Privatunterricht. Ganz auf sich selbst zurückgeworfen, schafft Morgenstern sich früh seine eigenen Fantasiewelten, erzählt Oliver Steller und schon entführt er seine Zuhörer in die fantasiereiche Welt des Knaben, bei dem selbst ein Butterbrotpapier „im Wald gewinnt – aus Angst – Naturgestalt“. „Ich lebe immer noch im Sonnenschein meiner Kindheit“, so Morgenstern später. Doch die ist nach neun Jahren abrupt zu Ende und von himmelhoch jauchzenden lustigen Versen nimmt der Lyrik-Experte seine Zuhörer binnen Sekunden mit in das tiefe Tal der Traurigkeit: „Christian Morgenstern ist neun Jahre alr, als seine Mutter an Lungentuberkulose stirbt.“ Er singt von dem schwarzen Vöglein, das „todestraurig keine Sonne mehr schaun mag“– ein dunkler Schleier legt sich unwillkürlich auf die Seele. Weiter geht es im Flug durch nun folgende bittere Jahre mit einem Vater, der Zucht und Ordnung von Morgenstern fordert und ihn von zu Hause fort erst zum Patenonkel, und als es dort Schwierigkeiten gibt, in eine Erziehungsanstalt schickt. „Etwaige Ungerechtigkeiten im Leben müssen frühzeitig ertragen werden können“, meint sein Vater. Die Art der züchtigenden Erziehung war damals auch anderen Dichtern seiner Zeit „vergönnt“, wie Rilke, Hesse oder Ringelnatz, weiß der Rezitator. Jedenfalls wird die Zeit für ihn erst wieder durch die zweite Heirat seines Vaters besser, zu dessen Frau Christian Morgenstern eine innige Beziehung aufbaut. „Er ging mit den beiden nach Breslau und dort aufs Maria-Magdalena-Gymnasium“, erzählt Steller. „Seine schulischen Leistungen sind schlecht. Wie er davon ablenkt? „Ich werfe ab und zu ein paar Gedichte in die Klasse, damit sie mich nicht für dumm, nur für faul halten!“ Und es geht weiter mit einer Reihe von Beispielen, mit dem Glockenton „Bim“, der seinen „Bam“ sucht, beispielsweise. Doch diese Zeit des Verwurzeltseins bleibt kurz, denn der Vater trennt sich von seiner zweiten Frau. Später kommt es zum Bruch zwischen Vater und Sohn. Mit Auftragsarbeiten, das norwegische Werk von Henrik Ibsen zu übersetzen, sichert sich Morgenstern finanziell eine Weile ab (dazu reist er nach Norwegen, um erst einmal die Sprache zu lernen), verliert aber auch Zeit für sein eigenes Werk. Oliver Steller berichtet von der tiefen Freundschaft Morgensterns mit der Malerin Marie Goettling, übermittelt das Gefühl, das Morgenstern spürt, wenn er über diese Freundschaft dichtet. Wie der umtriebige, aber Zeit seines Lebens schwerkranke Morgenstern – er hat sich bei seiner Mutter mit Tuberkulose angesteckt – mit 18 Jahren „am liebsten die ganze Welt entfachen möchte“, erfährt das Publikum hautnah durch Oliver Stellers schauspielerisches Geschick. Steller schlüpft dabei in die Rolle zweier Elemente: Er wird zum Feuer, genauer gesagt zu Morgensterns sterbendem Kerzenstummel, der sich kurz vor seinem Erlöschen noch einmal aufbäumt zu einem lodernden Feuertraum, dem niemand entrinnt, um schließlich doch zu verlöschen. Und er verkörpert die Meeresbrandung, die mit unabänderlicher Geduld so lange tost und schäumt, „heute mild, morgen wild, doch niemals schwach“, bis sie sich wieder ein Stück Land erobert hat: „Wie viele stolze Festen wird mein Arm noch in die Tiefe zeihen ...der Mensch vergeht, ich aber werde sein!“ Nur mit seiner Stimme vermag es Oliver Steller, dass man die Gischt an den Fels schlagen hört und die brausende Meeresstimme zu hören glaubt. Steller begeistert sein Publikum für Morgenstern, in dem er die Fülle seiner Gedankenspiele vor ihnen ausbreitet, nicht nur die Humoresken, sondern auch dessen tragische Gedanken. Morgensterns teilweise vergessene Dichtkunst lebt neu auf, die Einblicke in sein dichterisch volles, an Jahren jedoch kurzes Leben – Morgenstern stirbt mit 42 Jahren – macht Lust, sich mit dem Dichter näher zu befassen, dessen Verse „Und er kommt zu dem Ergebnis: Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf“, zum geflügelten Wort wurden.
Die Liebe erfuhr Morgenstern erst mit 37 Jahren, als er Margareta Gosebruch kennenlernte und heiratete. Wie die Liebe sich anfühlt – tief, ruhig und unaufhaltsam bindend, erfahren die Zuschauer, wenn Steller seine E-Gitarre zückt und es ihnen mit Morgensterns Worten, einfühlsam vorsingt: „Es ist Nacht und mein Herz kommt zu Dir, legt sich Dir auf die Brust wie ein Stein, sinkt hinein, zu dem Deinen hinein, dort es kommt zur Ruh, liegt am Grund seines ewigen Du.“ Trotz Mittellosigkeit und ständigen Geldnöten heiraten die beiden und Morgenstern verlebt fünf glückliche Jahre, geprägt von der Liebe sowie von der Freundschaft und den anthropologischen Gedanken Rudolf Steiners, mit dem er eine enge Freundschaft teilt. „Morgenstern ahnt, dass mit den Jahren seine Träume an ihre Ziel kommen, alles fügt und erfüllt sich“, so der Rezitator. „Und Morgenstern weiß, dass er nicht mehr viel Zeit hat.“
Nach seinem Tod, nach einer schweren Bronchitis, steht seine Urne mehrere Jahre bei Rudolf Steiner, erfährt das Publikum noch, und dass seine Frau, Margareta, ihn um 54 Jahre überleben soll und nach seinem Tod zahlreiche seiner Werke herausgibt. Damit ist der Lyrik-Abend und das Leben Morgensterns, kurz wie es war, zu Ende. Nachdenklich sitzt der Zusschauer da, auf sein eigenes Leben zurückgeworfen: Doch es gibt Zugaben, die das Kronberger Publikum vehement einfordert. So folgt das wunderbare Zwiegespräch der Brise mit dem Sturm und nachdem Steller während des Abends bereits komödiantisch überzeugend die Schnecke gemimt hatte, die nicht weiß, ob sie rein oder raus soll aus ihrem Haus, folgt nun „die 1.000-jährige Schildkröte“ – mit dem Hinweise an die anwesende Presse, ihn doch dabei bitte nicht zu fotografieren, schließlich seien auch Künstler eitel. Abschließend verrät er noch, welchen Dichter er sich für das nächste Programm vornehmen will: Es werden deutsche Dichterinnnen und Lyrikerinnen sein –Applaus und Freude vom Publikum für diese Wahl.