Lebendige Geschichtsstunde über das Wiederaufstehen Frankfurter Chöre

Kronberg (pf) – Frankfurt lag in Schutt und Asche. Die Amerikaner hatten die Stadt besetzt und sich im Gebiet vom Palmengarten über den Grüneburgpark bis zum IG-Farben-Hochhaus, der heutigen Goethe-Universität, in einem Sperrgebiet hinter Stacheldraht verschanzt. Nachts herrschte Ausgangssperre. Die Menschen kämpften nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ums nackte Überleben, um Nahrungsmittel, ein Dach über dem Kopf und Heizmaterial. Dass dennoch die Frankfurter Konzertchöre wieder mit Proben begannen, der traditionsreiche, schon 1818 gegründete Cäcilien-Verein bereits Ende Mai 1945 als Kirchenchor „getarnt“ – denn die Amerikaner erlaubten damals Musikveranstaltungen nur im Gottesdienst – die C-Dur-Messe von Ludwig van Beethoven sang, davon berichtete die Zeitzeugin Eva Zander am Montagnachmittag in einem Vortrag im Festsaal des Altkönig-Stifts.

Als 16-jähriger halb verhungerter Teenager war sie damals für den Cäcilienverein angeworben worden. Seitdem hatte sie das Musikgeschehen in Frankfurt hautnah miterlebt und wusste interessant und kenntnisreich davon zu berichten. Fotos der ersten Chorkonzerte allerdings hatte sie nicht, denn die Amerikaner hatten damals bei ihrem Einmarsch in Frankfurt nicht nur Waffen und Telefone, sondern auch alle Fotoapparate, die sie fanden, eingesammelt und das Fotografieren erst einmal verboten, erzählte sie. Sie behalf sich mit einigen Fotos der Konzertankündigungen und Programme, der Komponisten und Noten und der Porträts der Chorleiter der ersten Stunde wie Dr. Ljubomir Romansky, von Juli bis November 1945 kommissarischer Leiter des Cäcilien-Vereins und danach Erster Kapellmeister der Oper Franfurt war, und von Generalmusikdirektor Bruno Vondenhoff, von 1945 bis 1952 Frankfurts Generalmusikdirektor – nicht ohne schmunzelnd anzumerken, dass beide seinerzeit deutlich magerer waren.

Viele im Publikum dürften die unmittelbare Nachkriegszeit noch miterlebt haben. Für die anderen war es lebendiger Geschichtsunterricht als sie beispielsweise erfuhren, dass der Chor in einer Halbruine probte, wo die Decke undicht war und zwei Mülltonnen den Flügel flankierten, um das Regenwasser aufzufangen. Der Flügel hatte ein gebrochenes Bein und einige stumme Tasten. Und die Putzfrau, die ständig mit Aufwischen gegen die Nässe kämpfte, flehte damals die Chorsänger inständig an, von elektrischer Beleuchtung abzusehen, da sie sonst einen Schlag bekommen würde.

Als Ende des Jahres 1945 das Weihnachts-Oratorium von Johann Sebastian Bach aufgeführt werden sollte, bekam der für die Rolle des Evangelisten vorgesehene Tenor, der in der britischen Besatzungszone wohnte, keine Einreiseerlaubnis in die amerikanische Besatzungszone. So stand am Morgen des ersten Konzerttages der Chor ohne Evangelist da. Doch zwischen öffentlicher Generalprobe und der Aufführung am Abend paukte der neue Generalmusikdirektor mit Hochdruck mit einem der Opern-Tenöre die Partie ein.

Ein anderes Mal sollten zwei Busse den Cäcilien-Chor zu einem Konzert nach Wiesbaden bringen. Doch einer der Busse blieb mit einem Defekt liegen, sodass der andere Bus zweimal fahren musste. Während der öffentlichen Generalprobe am Vormittag erschienen dann nach und nach auf den hinteren Chorbänken immer neue singende Köpfe, zur Freude des Dirigenten, der persönlich fürs Mittagessen die Fünf-Gramm-Fettmarken pro Person einsammelte. Das Blechbesteck allerdings gab es nur gegen 20 Mark Pfand – mehr als mancher besaß.

Auch die Heimfahrt ging in zwei Etappen vor sich und die „Spätschicht“ kam erst nach Beginn der nächtlichen Sperrstunde vor der Ruine der Alten Oper an. Alle stoben auseinander, um nicht von der Militärpolizei entdeckt zu werden und Eva Zander musste in eisiger licht- und mondloser Finsternis vier Kilometer nach Hause laufen.

Der pensionierten Oberstudienrätin, die seit vier Jahren im Altkönig-Stift wohnt, gelang es, das Publikum mit ihrem lebendigen Vortrag zu fesseln. Einige Luftaufnahmen des zerbombten Frankfurt und einer langen Menschenschlange, die nach der Währungsreform anstand, um sich am 20. Juni 1948 das Kopfgeld in Höhe von 40 D-Mark abzuholen, illustrierten die damalige Realität, mit der sich die Menschen täglich konfrontiert sahen. Es gab kaum Papier, etwa um den Antrag zu stellen, die Frankfurter Konzertchöre als „Erwachsenenclubs“ wieder zuzulassen. In sechsfacher Ausfertigung und in deutscher und englischer Sprache musste ein solcher Bewerbungsantrag eingereicht werden und die Versicherung enthalten, dass der Club keine nationalsozialistische Betätigung anstrebe. Einem der Antragsteller unterlief dabei ein bezeichnender Fehler: Er schrieb „nationalsolistische“ Betätigung.

Die Zeitungen konnten wegen Papiermangels nicht täglich erscheinen, aber die Rezensionen der damaligen Konzerte, die Eva Zander gesammelt hatte und aus denen sie zitierte, fielen durchweg positiv aus. Denn allen Entbehrungen und Unbilden zum Trotz waren Proben und Konzerte gerade damals inmitten der Trümmerwüste für Sängerinnen und Sänger auch eine Art Überlebenshilfe gewesen. Sie hatten die Mitwirkenden und ihr Publikum für ein paar Stunden in eine bessere Welt entrückt.



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