Odysseus hatte nicht nur Muskeln und Mut

Professor Michael Stolleis, Jurist und Rechtshistoriker im Gespräch mit Dr. Alf Mentzer, Literaturredakteur bei hr2-kultur. Foto: Sura

Kronberg (aks) – Lilly Beckers, Historikerin und seit 2014 Vorsitzende des Freundeskreises der Stadtbücherei Kronberg, stellte voller Stolz die beiden Referenten des Abends in der Stadtbibliothek vor, bis ein Hustenanfall ihren Vortrag beendete. Viel Intro war allerdings nicht nötig bei Professor Michael Stolleis, Jurist und Rechtshistoriker aus Kronberg, dem letztes Jahr der Orden Pour le Mérite verliehen worden war, und seinem Gesprächspartner Dr. Alf Mentzer, Literaturredakteur hr2-kultur. Nach dem Motto „Helden haben immer Konjunktur“ war der Lesesaal im ersten Stock bis auf den letzten Stuhl besetzt. Stolleis hat sich außer mit der Verarbeitung von hundertausenden Seiten Geschichte des Rechts und neben seiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit auch mit vielen Bänden zum Thema Odysseus beschäftigt. Stolz hielt er das Buch von 1919 hoch, das ihn schon mit neun Jahren faszinierte: Homers „Odyssee“ in der Prosa-Version. Viele staunten nicht schlecht, scheint es in unserer multimedialen Zeit doch eher ein verlorener Kampf, den Kleinen die Lust am Lesen beizubringen. Die Lektüre Homers, aber auch die Rezeption von Joyce, Walcott, Brecht, Adorno bis Horkheimer haben ihn seitdem fasziniert. Mentzer, der sich selbst als großer Literaturfan vorstellte und seinen Beruf liebt – „lesen und lesen lassen und ab und zu ein kritisches Wort darüber verlieren. Herrlich!“ – nahm den Juristen und das Publikum mit auf 3.500 Jahre Kreuzfahrt in der Karibik und Ägäis - eine spannende literarische Reise. Als Historiker und Jurist sieht sich Stolleis selbst als Geschichtenerzähler, der sehr genau auf Worte achten und sorgfältig mit ihnen umgehen muss. Dass sich um die Geschichte von Odysseus, „dem ersten Flüchtling“, der 1.300 v.Chr. den Trojanischen Krieg zum Sieg führte und der für seine Rückkehr nach Hause zehn Jahre brauchte, viele Legenden spannen, lag an der mündlichen Tradierung. Erst 500 Jahre später schrieb Homer seine Heldentaten auf. Lesen ist für Stolleis „das Denken mit fremdem Gehirn, deshalb sollte man nur gute Bücher lesen“: Die „Odyssee“ ist für ihn eins davon und Grundlage vieler tausend Interpretationen bis zum heutigen Tag. Odysseus ist ein eher klein gewachsener Held, ein viereckiges Kraftpaket und gefürchteter Kämpfer – mit dem Bogen des Herakles gilt er als unbesiegbar. Er ist gleichzeitig der intelligenteste und listenreichste Kämpfer, der den Krieg verabscheut: ein Pazifist und Bellizist, wie Walter Jens ihn nennt. Die Erfindung des Trojanischen Pferds ist ein Beweis für seinen Ideenreichtum. Seine List gelingt, obwohl Cassandra, die blinde Seherin, warnt und die Trojaner die Gefahr wittern. So erobert er Troja und rettet die schöne Helena, die von Paris entführt worden war. Ein Kriegsheld, der den Krieg beendete, allerdings mit fürchterlichen Morden. Im Krieg war auch er nicht zimperlich: Städte wurden zerstört, schnelle Beute gemacht und Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft. Alles Unglück begann damit, dass Odysseus’ Krieger die Rinder des Sonnengottes Helios töteten und dafür bestraft wurden. Die Odyssee, die 20-jährige Irrfahrt des jungen Odysseus ist voller furchterregender Gestalten und horrenden Abenteuern, die nur mit großem Mut und besonderem Erfindungsreichtum bestanden werden können. Odysseus geht als Sieger aus all diesen Prüfungen durch die Götter hervor, auch wenn er dabei viele seiner Kampfgefährten verliert. Da werden seine Soldaten von Circe in Schweine verwandelt oder vom einäugigen Zyklopen gefressen. Odysseus selbst wird sieben Jahre von Kalypso als Sexsklave gehalten und der Gesang der Sirenen bringt ihn fast um den Verstand. Die berühmte Szene beschreibt wie Odysseus an den Mast des Schiffes gebunden wird, während seine Männer mit Wachs in den Ohren fleißig an den Sirenen vorbeirudern. Stolleis liest die Passage vor, die erstaunlich kurz und knapp ist und doch die Nachwelt zu vielen Auslegungen inspiriert hat: Der Sirenengesang sei eine Allegorie für die Kunst. Adorno sieht es so: „Die herrschenden Klassen geben sich dem Kunstgenuss hin, die unteren müssen rudern.“ Im 5. Jahrhundert wurde der Mast sogar zum Kreuz Jesu mit all seinen Qualen. Dabei sei doch Schweigen viel schrecklicher als der Gesang, sagte Kafka. Der Kernsatz des Odysseus „Ihr sollt mich nicht befreien, auch wenn ich es befehle“, entspricht dem Grundsatz der Staatsverfassung, so Stolleis. Der Artikel 79 Abs.3 GG behandelt die Ewigkeitsgarantie: Bestimmte Verfassungsprinzipien dürfen auch dann nicht geändert werden, wenn es der aktuelle Volkswille so wünscht – ein hoch interessanter Einwand in Zeiten, in denen die Wellen des Populismus immer höher schlagen.

Die Fahrten des Odysseus entsprechen in ihrer Wellenbewegung einer archetypischen Struktur: Es geht immer um Auszug und Wiederkehr. Die unter übermenschlichen Qualen durchlebten Zyklen stehen für Selbsterkenntnis, Stärkung und Heimkommen. Da prallen Zeitsysteme aufeinander, vertraute Menschen erkennen einander nicht wieder, da alle und alles sich verändert hat – so wird auch Odysseus nach 20 Jahren bei seiner Heimkehr nur von seinem alten Hund Argos erkannt, der daraufhin stirbt.

Seefahrer waren auf ihrer Heimkehr besonders gefährdet und die Sehnsucht nach zuhause immens. So entstand übrigens die Witwenversorgungskasse als Ursprung des Versicherungswesens, belehrt Stolleis sein interessiertes Publikum.

3.500 Jahre später: Mentzer leitet über zum nächsten großen Werk der Weltliteratur, das sich von Odysseus inspirieren ließ: „Ulysses“ von James Joyce, das einen Tag in Dublin im Jahr 1904 beschreibt – auf über tausend Seiten. Mentzer und Stolleis müssen beide schmunzeln, als sie zugeben, dass das Werk mit seinen ausschweifenden Beschreibungendoch recht viel Geduld erfordert, doch beide sind sich einig, dass sich die Lektüre lohnt. Auch wenn hier die Alltagssprache vorherrscht, die den scheinbar banalen Alltag des „Annoncenaquisiteurs“, des Anti-Helden Leo Blum beschreibt, ist dieser Epos eine Parallele zur „Odyssee“, die man zum Verständnis allerdings nicht gelesen haben muss. Nach Stolleis Lesung, in der da wo Tiere erwähnt werden, wie Blums Katze miaut und an anderen Stelle sogar bellt, sehr zum Amüsement des Publikums, stellt Mentzer fest, dass es doch so viel einfacher ist, dem gesprochenen Wort zu folgen – viele Zuhörer stimmen dem zu.

Vielleicht ist für den einen oder anderen Kurzleser ein Hörbuch eine Alternative, um einen Eindruck von diesem Werk zu bekommen. Von den 60er-Jahren geht es in flottem Lauf und angeregtem Dialog von Zweien, die gar nicht genug bekommen können von diesem Stoff und lustvoll eine Anekdote nach der anderen aufgreifen, in das Jahr 1992, als Derek Walcott, karibischer Autor, den Literaturnobelpreis erhielt. Sein Werk „Omeros“ beschreibt in Hunderten von Versen, in freien Rhythmen die Geschichte von Versklavung und Zivilisation auf der Insel Santa Lucia, die Kolumbus entdeckte und die heute durch Tourismus, Technik und Überfischung zerstört ist. Dei schöne Helena arbeitet in einer Kneipe und Joyce wird auf einer Reise nach Dublin erwähnt. Auch wenn es hier keine zyklische Heimkehr gibt, geht es wie in der Odyssee um das Erkennen geliebter Menschen, hier von Mutter und Sohn.

Mentzer stellt gut gelaunt fest, dass das Gespräch mit Stolleis „sehr viel Spaß macht“ und er entdeckt habe, „wie begeistert Sie von Literatur sind!“. Die beiden Literaturkenner unterhielten ihr geneigtes Publikum im Plauderton aufs Köstlichste mit schwerer Kost, die nicht nur für Altgriechen und Philologen als Anregung diente. Die Feststellung „lesen muss man selbst“ ist nichts Neues, motiviert aber sicher den einen oder anderen, mal wieder mit neuem Mut die ganz dicken schweren Bände aus dem Regal – oder dem der Eltern und Großeltern zu nehmen – und auch zu lesen oder bei der nächsten langen Autofahrt zu hören.



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