Frech, frivol und voller Sehnsucht

Kronberg
(sw) – Jo van Nelsen liest in seinem Programm „Bubikopf und Bleistift“ Texte bekannter und neu zu entdeckender Autorinnen der 20er Jahre. Vielseitig, vielschichtig und immer auch ein bisschen morbide abgründig – so zeigt sich die Kunst der jungen Weimarer Republik.

Jo van Nelsen, Regisseur, Sänger, Mime und Vorleser, ist ebenso wandelbar wie wunderbar und zieht bereits nach wenigen Minuten das Publikum in den Kronberger Lichtspielen in den Bann dieser wilden Zeit.

Der gebürtige Bad Homburger fand seinen Weg nach Kronberg im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Frankfurt liest ein Buch“, welche dieses Jahr Irmgard Keuns Roman „Nach Mitternacht“ in den Fokus setzt. Irmgard Keun war auch eine der Autorinnen, die van Nelsen an diesem Abend im Gepäck hatte. In „Gilgi, eine von uns“ zeigt sich das neue „Frauenideal“, für viele Frauen mutmachend, für viele Männer angsteinflößend: Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen, die für sich selbst Verantwortung übernehmen, die schlagfertig sind und, ganz unerhört, etwas für sich selbst einfordern. Glücklichsein zum Beispiel.

Was die Autorinnen dieses Abends einte, war nicht nur das literarische Flirren zwischen Lebenshunger und Endzeitstimmung, sondern auch rein optisch gab es eine Gemeinsamkeit: Die langen Haare fielen, ebenso wie die Korsetts, und die Rocksäume stiegen in ungeahnte Höhen. „Bubikopf“ war die Modefrisur der 20er, und die kurzen Haare, auch als „Windstoßfrisur“ bezeichnet, passten perfekt zum Zeitgeist. Praktisch sollten die Dinge sein, ohne viel Firlefanz und Schnörkel, die „neue Sachlichkeit“ eben. Van Nelsen, der neben Literarischem und Musikalischem auch viel Informatives über die legendär lebenshungrige Ära präsentierte, schilderte den Alltag von Revue Girls, Journalistinnen und Stenotypistinnen, die als „Tippfräulein“ zur Kakophonie der Großstadtbüros beitrugen. Überhaupt, die Großstadt: Berlin als Sehnsuchtsort, wo man in der Anonymität aufgehen und dem propagierten Ideal der „Liebe im Vorübergehen“ folgen konnte.

Also alles ganz einfach? Nein, denn hinter so viel Sachlichkeit lauerte auch versteckt die Sehnsucht nach etwas Beständigem, nach Geborgenheit, die das Getöse und das Grauen des gerade überstandenen Ersten Weltkrieges dröhnend hinweggefegt hatte.

In Mascha Kalekos „Chor der Kriegerwaisen“ zeigen sich die Verwundungen ebenso wie die Absage an vermeintliches „Heldentum“ und Kriegstreiberei. So kommt es nicht von ungefähr, dass allen Autorinnen des Abends, trotz eines kometenhaften Aufstiegs in der Weimarer Zeit, in den darauffolgenden Jahren die Karriere beendet wurde. Die Schriften, von den Nationalsozialisten verächtlich als „Asphalt Literatur“ bezeichnet, wurden eingestampft und verboten, den Autorinnen sämtlich die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer verweigert. Zum Teil wurden sie in den Todeslagern Polens und Weiß-Russlands ermordet, zum Teil gingen sie ins Exil oder starben verarmt und nahezu vergessen. An ihre Erfolge aus der Weimarer Republik konnte keine der Autorinnen in der Nachkriegszeit anknüpfen.

Jo van Nelsen hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, die Schriftstellerinnen, die von den Themen wie von der Schreibe so unerhört modern wirken, dem Publikum wieder zugänglich zu machen. Er bezeichnete es als „inneren Auftrag, ganz viele Autorinnen, die Sie noch nicht kennen, Ihnen heute Abend näherzubringen.“ Und so standen neben den bekannten Namen Mascha Kaleko, Irmgard Breun und Vicki Baum auch Ilse Ehrenfried, die unter den sprechenden Namen „Polly Tieck“, „Katta Launisch“ und „Lieschen Lassdas“ publizierte, Gabriele Tergit, Hermynia zur Mühlen und Lili Grün auf dem Programm.

Obwohl die Damen in den 20er Jahren zum Großteil „schon“ Mitte 40 waren, klingen sie unglaublich jung und frech, aber auch kritisch: In einer Zeit, in der das Exzentrische zur Normalität erklärt wird, appellieren die Autorinnen immer wieder, dass das extravagante Individuum, das sich selbst für so besonders hält, in Wirklichkeit in der Originalität völlig konform sei. So trugen nicht nur die vorgestellten Autorinnen Bubikopf, sondern auch die Interpretinnen, die an diesem Abend präsentiert wurden.

Jo van Nelsen benutzt für seine musikalischen Lesungen ein fast hundert Jahre altes Electrola Koffergrammophon von 1929. Mit dabei die selbstbewusstesten und kessesten Stimmen der Weimarer Zeit: Claire Waldoff, die nicht nur die sexuelle Freiheit propagierte, sondern mit ihrem emanzipierten Hit „Raus mit den Männern aus‘m Reichstag“ die Herren in Angst und Schrecken versetzte. Fritzi Massary, deren pikantes Mantra „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben“ sich zigtausendfach auf Platte verkaufte und schließlich Marlene Dietrich, von der Jo van Nelsen zu berichten wusste, dass sie in den 20er Jahren auch an der „Singenden Säge“, einem weitgehend vergessenen „Instrument“, große Erfolge feiern konnte.

Ein Abend voll unbekannter und inspirierender Perlen war in den Kronberger Lichtspielen zu erleben. Jo van Nelsen faszinierte das Publikum mit jedem Wort, so leicht und temporeich, als wäre er selbst den 20er Jahren entsprungen. Kinoeigentümerin Vanessa Müller-Raidt war ebenfalls begeistert und froh, den Raum für den Abend zur Verfügung stellen zu können. Auch für die kommenden Monate ist wieder ein buntes Programm geplant. Müller-Raidt schaut nach zwei Pandemie-Jahren zuversichtlich in die Zukunft, appelliert aber: „Ich weiß, dass die Kronberger uns lieben, aber es wäre schön, wenn sie alle mal wieder vorbeikommen könnten.“ Vielleicht zu „Bubikopf und Bleistift“, Teil 2? „Genug Material wäre auf jeden Fall vorhanden“, lacht Jo van Nelsen.

Das wirklich sehenswerte Programm „Bubikopf und Bleistift“ wird in den nächsten Wochen noch an verschiedenen Orten im Rhein-Main Gebiet zu sehen sein. Die Veranstaltungsorte können auf der Homepage des Künstlers gefunden werden.

Jo van Nelsen „in action“
Foto: Silvia Weber



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