Ein ganz normaler Sonntagmorgen in Kronberg – Äthiopische Christen leben ihre Gemeinschaft

Nach dem Gottesdienst in der Markus-Gemeinde freuen sich ...

Kronberg (mg) – Es ist 6.30 Uhr sonntags morgens, rund acht Kilometer entfernt von Kronberg im Taunus. Der Redakteur macht sich langsam, aber sicher auf den Weg zu einem Termin. Zu diesem Zeitpunkt findet bereits seit eineinhalb Stunden in Kronbergs Stadtteil Schönberg der christliche Gottesdienst der äthiopisch-orthodoxen Kirche statt. Um fünf Uhr morgens treffen sich dort jeden Sonntag rund 150 Gemeindemitglieder, um für vier Stunden die christliche Gemeinschaft zu leben, für die sie sich entschieden haben. Viele kommen aus dem Rhein-Main-Gebiet. Es sind Menschen aus Schmitten und Mörfelden, aber auch aus Mannheim, denen ihre Gemeinde so sehr am Herzen liegt, dass sie sich zwangsläufig „in aller Herrgottsfrühe“ von ihrem Wohnort auf die sonntägliche Reise nach Schönberg machen. Warum tun Menschen das? Die Antwort erfährt man womöglich während der Teilnahme am Gottesdienst. Man wird mehr als freundlich im Vorraum des Gottesdienstes empfangen und hört im selben Moment harmonische und stimmungsvolle Gesänge durch die offenen Türen. Helle, festliche Kleidung tragen alle Gemeindemitglieder, sehr viele Kinder sind vor Ort. Eine strukturierte Lebhaftigkeit beginnt sofort unaufdringlich zu wirken, die Gemeinschaft der Menschen an dieser Stelle rückt in der Wahrnehmung in den Vordergrund, gewiss nicht nur intellektuell. Seit Februar 2016 nun ist Kronberg die Heimat dieses christlichen Verbunds. Aktuell findet der Gottesdient der äthiopisch-orthodoxen Tewahedo Kirchengemeinde in den Räumlichkeiten der Evangelischen Markus-Gemeinde schräg gegenüber der katholischen Kirche St. Alban statt. Die Gemeinde ist dankbar für dieses Angebot, das ein gutes ökumenisches Beispiel darstellt. Gleichzeitig hängt ihr Herz an der Kirche St. Alban, ihrem emotionalen Zuhause, das sie vermutlich auch als religiöse Heimat hierzulande empfinden.

St. Alban, Schönbergs Juwel

In den Jahren von 1763 bis 1766 entstand ein neues Gotteshaus im damaligen Schönberg. Es war die Zeit des Hochbarrocks und so wurde St. Alban auch unter diesem starken Einfluss gestalterisch geprägt. Die kunstvolle Stuckdecke und der beeindruckende Hochaltar sind zwei wertvolle Schwerpunkte. Um das Jahr 1800 kam die kleine, aber feine Orgel hinzu, die im Jahr 1889 erweitert wurde. Zahlreiche weitere Kunstwerke beherbergt die Kirche heutzutage und stellt ein tatsächliches Juwel innerhalb der vielen Kirchen im Taunus dar. Für zahlreiche Schönbergerinnen und Schönberger ist sie eines der Wahrzeichen des Stadtteils, der sich im Jahr 1972 während der hessischen Gebietsreform mit den Kommunen Kronberg und Oberhöchstadt zusammenschloss.

Weltliche Zwänge und die Zukunft

Nun machen auch vor der römisch-katholischen Kirche der grundsätzliche Zeitenwandel und gesellschaftliche Veränderungen nicht Halt. Nichts ist beständiger als der Wandel, das gilt auch an dieser Stelle. Realismus ist ab einem gewissen Zeitpunkt nicht zu ignorieren und so treffen diese Institutionen ebenfalls Auswirkungen der vielen aktuellen Krisen weltweit. Ein zunehmend großer Schwund an Kirchenmitgliedern macht die Sache nicht einfacher. Auch daraus entstehende finanzielle Nöte und ein aufkommendes Bewusstsein für den bestehenden Klimawandel und die Problematik der Energieversorgung seit den immensen Preissteigerungen führten dazu, dass auch über das Thema „Heizen in der Kirche“ für alle Gebäude innerhalb des gesamten Bistums diskutiert wurde, denn auch die finanziellen Haushalte der Kirchen dürfen nicht zusammenbrechen. Letztlich entschied man sich nach konkreten Überlegungen und Abwägungen seitens der kirchlichen Gremien, die Raumtemperatur in den letzten Jahren innerhalb der Kirche St. Alban auf zehn Grad festzulegen. Gewiss keine Wohlfühloase, denn hinzu kommt das grundsätzlich eher feuchte Klima innerhalb des Gotteshauses, das diesem immanent scheint. Für die Dauer einer Stunde sei dies nach dem Dafürhalten der Kirchengremien hinnehmbar. Dieser Umstand veranlasste die lebendige Gemeinde der äthiopisch-orthodoxen Kirche in Kronberg, mit vielen kleinen Kindern, während der kalten Monate des Jahres in die Räumlichkeiten der Schönberger Prostestanten umzuziehen. Ein Angebot, für etwaige Heizkosten in St. Alban selbst aufzukommen, konnte nach Aussagen der zuständigen Gremien und Verantwortlichen nicht nachgekommen werden, denn das Hoch- und Herunterheizen stelle klimatisch ein Problem für das Kirchengebäude dar. Zusätzliche Feuchtigkeit entstünde auf diese Weise, was weder dem Gemäuer noch den Kunstwerken guttäte. Aktuell sei jedoch auch ein Bauphysiker dabei, Konkreteres zu untersuchen. Die Ergebnisse gelte es abzuwarten, formuliert es die Trägergemeinde. Mögliche neue Erkenntnisse müssten dann diskutiert werden, man befände sich im Austausch. Wenn, dann müsste die Kirche kontinuierlich die ganze Woche über geheizt werden – so der aktuelle Kenntnisstand –, das könne sich gleichzeitig weder die äthiopisch-orthodoxe Gemeinde noch die katholische Kirche vor Ort leisten – ein sogenanntes Dilemma, eine Problemstellung, für die es keine Lösung zu geben scheint.

Der Palmsonntag ist der sechste und letzte Sonntag der Fastenzeit und der Sonntag vor Ostern. Ab diesem Zeitpunkt ist es für die äthiopisch-orthodoxe Gemeinschaft wieder möglich, in St. Alban ihren Gottesdient zu feiern. Das wird sie dann auch wieder tun. Ohnehin findet in der St. Alban Kirche nur jeden zweiten Samstagabend ein Gottesdienst der hiesigen katholischen Kirche statt, demzufolge zwei Mal im Monat. Sonntags steht die Kirche dann der äthiopisch-orthodoxen Gemeinde zur Verfügung und der vierstündige Gottesdienst muss nicht um fünf oder sechs Uhr morgens beginnen. In der Markus-Gemeinde geht es nicht anders, da dort selbstverständlich der evangelische Gottesdient stattfindet. Pünktlich muss seitens der äthiopischen Gemeinde wieder alles abgebaut und ordentlich hinterlassen werden. Das stellt einen beträchtlichen Mehraufwand an Engagement dar, aber gleichzeitig wird auch dies gemeinschaftlich getragen und bewerkstelligt. Während des Winters findet folglich sonntags kein Gottesdienst in St. Alban statt.

Gemeinschaft und Kinder

Ganz offensichtlich stehen bei der äthiopisch-orthodoxen Gemeinschaft in Kronberg zwei Dinge im Vordergrund: Gemeinschaft und Kinder beziehungsweise der Gemeindenachwuchs. So kommt es nicht von ungefähr, dass in dem Raum, in dem der Gottesdienst stattfindet, eine ausgewogene Mischung der Generationen existiert. Jedes Alter wird integriert, die Kinder und Jugendlichen nehmen einen großen Teil der Zeremonie ein. Das muss auch sein, denn gewiss sind drei Stunden (für Kinder beginnt der Gottesdienst „erst“ um sechs Uhr morgens) eine lange Zeit, aktive Teilhabe am Geschehen zwangsläufig eine Notwendigkeit. Am Ende des Gottesdienstes stehen sodann auch über 30 Mädchen und Jungen im Alter zwischen drei und zwölf Jahren vor der Gemeinde und bilden einen Chor. Subtil und liebevoll angeleitet von einigen Erwachsenen und den Diakonen stehen sie nun im Mittelpunkt des Geschehens. Sie singen und klatschen – zusammen mit den Erwachsenen –, das schafft erneut ein Gefühl des Gemeinsamen. Man gestaltet zusammen, man ist füreinander da. Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder. Das weckt Hoffnung und lässt sie bestehen, auch beim Individuum.

Westeuropäische Einsamkeit

Das Gefühl der Einsamkeit wiederum kann in jedem Alter und in jeder Lebenssituation in Westeuropa entstehen. Davon sind anscheinend aktuell viele Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland betroffen. Seit dem Jahr 2020 geht die Bundesregierung auch hierzulande diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe an und entwickelt seitdem eine Strategie gegen Einsamkeit. In diesem Jahr trat im Berliner Stadtteil Reinickendorf als bundesweit Erste Annabell Paris eine Stelle als vollzeitbeschäftigte Einsamkeitsbeauftragte an. Die 39-Jährige kümmert sich nun um ein Konzept, das Einsamkeit in „ihrem“ Stadtteil untersucht. In Großbritannien gelten im selben Moment der Zeitgeschichte neun Millionen Menschen als einsam. Im ersten Land weltweit wurde im Jahr 2018 auf der anderen Seite des Kanals ein Ministerium gegen Einsamkeit ins Leben gerufen. Es koordiniert die Versuche der Regierung, Menschen aus der Isolation und der Anonymität zu helfen. Diese Sorgen tragen die äthiopischen Christen der Gemeinde in Kronberg vermutlich nicht und wenn, dann suchen sie gemeinsam nach Lösungen.

Ungewohntes und Transparentes

Während des Gottesdienstes tauchen gleichzeitig auch Fragen auf. Diakoninnen gibt es in verschiedenen Kirchen, in denen auch Frauen ordiniert werden, beispielsweise in den meisten evangelischen, anglikanischen und alt-katholischen Kirchen. Die römisch-katholischen und die orthodoxen Kirchen weihen keine Diakoninnen, mit Ausnahme der Kirche von Griechenland. Und so sind auch in der äthiopisch-orthodoxen Gemeinde ausschließlich männliche Jugendliche und junge Männer in der Lage, Diakon zu werden – folglich dieses Amt zu bekleiden. Das führt im säkularen Gedankenmoment eines sich den demokratischen Grundwerten des hiesigen Grundgesetzes verpflichtet fühlenden Redakteurs und „gerade noch so-Protestanten“ mit an sich agnostischem Verständnis zu „Reflexen“. Warum dürfen Mädchen und Frauen keine Diakoninnen werden, zumindest nicht in diesem Bereich der christlichen Kirche? Das widerspricht dem Gleichheitsgedanken des Grundgesetzes und damit dem grundsätzlich ausschlaggebenden Moment des hiesigen Zusammenlebens. Und doch ist es so, dass, wenn man diese christliche Gemeinschaft mit äthiopischem Hintergrund erlebt, dieser Reflex rasch in den Hintergrund gerät. Der natürliche Umgang miteinander, die in der Tat gelebte sogenannte Nächstenliebe, das Fröhliche und vor allem die wirklich existente deutliche Transparenz – man könnte es auch „grundehrliches Miteinander“ nennen – in Darstellung und Kommunikation nach innen und außen dazu führen können, dass es keine Erheblichkeit erlebt. Das steigert sich noch durch den Austausch in längeren Gesprächen mit weiblichen Gemeindemitgliedern im Anschluss an den Gottesdienst. Die Trennung vom Alltag ist existent, es ist keinesfalls so, dass sich in der äthiopischen Gemeinde die Frauen nicht gleichberechtigt fühlen. Auf die Nachfrage des Redakteurs an drei junge Frauen, ob es sie denn nicht störe, dieses Amt nicht wie ihre gleichaltrigen männlichen Gemeindemitglieder ausüben zu dürfen, kommt die Antwort, die von einem ausdrucksstarken Lächeln flankiert wird: „Die Frage stellt sich gar nicht, darüber denke ich nicht nach, darüber muss ich nicht nachdenken. Es stellt für mich persönlich keine Einschränkung dar.“ Im weiteren Verlauf des Gesprächs kommt noch zur Sprache, dass man genauso wie die gleichaltrigen jungen Männer ausgebildet werde, und zwar gemeinsam und ohnehin durchaus die Existenz im Alltag hiervon nicht betroffen sei.

Womöglich ist es ab und an wichtiger, die gelebte Wahrheit zu akzeptieren und nicht die theoretische? Und sich dabei den kulturellen Hintergrund einer Glaubensrichtung vor Augen zu halten? Vor allem dann, wenn man auf der Handlungsebene auf Menschen trifft, die anscheinend eine Gemeinschaft leben, welche die Sehnsucht in einer stark von Gedanken geprägten menschlichen Existenz hervorruft, Ähnliches zu erleben. Selbst Charles Darwin – oder gerade er – müsste vielleicht attestieren, dass der Primat Mensch ein „Rudelsäugetier“ ist und die sehr stark individualisierte Gesellschaft zu einer Entfremdung von sich selbst führt? Und häufig genug nach der Auflösung von Großfamilienkonstruktionen in Deutschland auch zur zuvor im Text genannten Einsamkeit? Zweifel bleiben dennoch, dürfen das jedoch auch, denn der 26-jährige Diakon zur linken Seite des Redakteurs antwortet dann ergänzend zur Aussage seiner biologischen Schwester, die 23 Jahre alt ist: „Mich würde es an deiner Stelle schon stören, wenn ich nicht Diakonin werden könnte“. Diese Worte fallen vor „versammelter Mannschaft“. Rund 20 Mitglieder der Gemeinde sitzen noch um den großen Tisch in einem Raum von St. Alban, in dem nach jedem Gottesdienst Kuchen, Kaffee und Waffeln zur Verfügung stehen. Sicherlich auch notwendig, denn für viele beginnt nun eine längere Fahrt zurück an ihren Heimatort. An diesem Sonntag fährt die Gemeinde ohnehin noch gemeinsam zu einer Beerdigung, die in der Nähe von Offenbach stattfindet. Die Worte des Diakons sind ebenfalls Produkt der gelebten Transparenz und vermitteln deutlich den Eindruck von Meinungsfreiheit und möglicher Meinungsvielfalt innerhalb eines Prozesses.

Nach drei Stunden endet der Termin des Redakteurs und er fährt beeindruckt und nachdenklich wieder nach Hause.

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