„Er hat getötet, weil er es konnte“ – Jennifer Teege liest in der AKS

Kronberg
(aks) – Ein dunkles Familiengeheimnis. Sich den Dingen stellen, auch wenn sie abstoßen, das sei das, was jedes abgrundtiefe Familiengeheimnis in etwas Positives verwandeln könne. Jennifer Teege ist eine elegante Erscheinung und was sie zu ihrer erschütternden Familienchronik zu sagen hat, ist ebenso klug wie tröstend: „Wir können vor Dingen nicht davonlaufen!“ Bevor sie durch einen Zufall das Geheimnis ihrer Abstammung lüften konnte, habe sich ihr Leben angefühlt „wie ein Haus mit verschlossenen Türen“. Sie hätte da noch keine Ahnung vom „Schweigen über den Schmerz“ gehabt, aber eben doch eine Ahnung, die sie traurig und depressiv machte. „Transparenz!“ Das Wort wiederholt sie drei Mal, um alle, Schüler*innen und Gäste, in der gut besuchten Oberstufen-Aula wachzurütteln, Transparenz sei vonnöten, um die dunklen Flecken der Vergangenheit aufzudecken, die uns nicht bewusst sind und die sich im Unterbewusstsein festsetzen könnten. „Man kann vor der Wahrheit nicht davonlaufen!“

Teeges Geheimnis übertrifft jede Vorstellungskraft und so geraten nicht nur die Schülerinnen und Schüler der Kreisau AG ganz in den Bann der Autorin. Andächtig und atemlos lauscht man ihren Worten, die davon erzählen, wie sie mit 37 Jahren in einer Bibliothek zufällig ein Buch mit rotem Einband greift und noch beim Betrachten feststellt, dass es sich um die Biografie ihrer Mutter handelt: Monika Göth. Jennifer Göth, so lautete auch ihr Name, bevor sie mit sieben Jahren adoptiert wurde. Und Amon Göth, der Lagerkommandant des Konzentrationslager Plaszow, war ihr Großvater, ein zynischer Sadist, der Lagerinsassen zu Tausenden ermorden ließ und selbst erschoss.

Diese erschütternde Entdeckung „war der Schlüssel zu meinem Leben“. Die ganze Nacht recherchierte Jennifer Teege „wie in einem Gruselkabinett“ und begriff erst allmählich das ganze Ausmaß des Verbrechens. Als schwarzes Kind weißer Eltern habe sie von Anfang an gewusst, dass „etwas nicht stimmt“, nun aber brach ihr ganzes Leben über ihr zusammen. So begab sie sich unweigerlich auf die Suche nach der Wahrheit.

Amon Göth, Schlächter von Plaszow

„Er tötete, weil er es konnte.“ Jennifer Teeges Großvater Amon Göth, ein österreichischer SS-Offizier, wird mit Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ bekannt, ein Film, der in den 90er-Jahren einer breiten Masse die Gräuel des Holocausts vorführte. Millionen Menschen kennen Göths Geschichte. Er ist der Gegenspieler des Judenretters Oskar Schindler, der tausende Juden dank seiner Arbeitslisten vor der Ermordung durch die Nazis rettet. Unvergesslich das eiskalte Gesicht und die schlampige Gestalt des brutalen Amon Göth alias Ralph Fiennes, als er vom Balkon seiner Villa Häftlinge in Pyjamahosen erschießt, sozusagen als Morgengruß. Sein zynisches Motto: „Wer zuerst schießt, hat mehr vom Leben.“ Ihre Großmutter leugnete die Taten, dabei war sie mittendrin und feierte rauschende Feste mit Amon Göth: „War sie taub?“ Ein schmerzhafter Widerspruch: Die Großmutter, Ruth Irene Kalder, war der wichtigste Mensch für die kleine Jennifer. 1946 wurde Göth in Polen gehängt. „Die Grausamkeit war Teil der Zeit und gehörte zum System des Tötens. Es gab keine Grenzen, keine Hemmnisse im Lager, keine Menschlichkeit“, so Teeges schonungslose Analyse, ganz ohne Pathos.

Vergangenheitsbewältigung und die Lehren daraus

Der Besuch der Villa in Plaszow habe ihr geholfen, sich von der Macht des Toten zu befreien. Sie habe dort aufgearbeitet, was in der Vergangenheit geschehen sein könnte und habe so Abstand gewinnen können. Der kritische Umgang mit der Vergangenheit sei ihr wichtig, aber nicht, „den Nationalsozialismus zum einzigen Thema zu machen“. Es gehören sicher Mut und die Fähigkeit zur Einsicht und Selbstanalyse dazu, von diesem Trauma zurück ins Leben zu kehren. „Es war nur ein halbes Leben, ohne die Kenntnis meiner Vergangenheit.“ Die intensive Vergangenheitsbewältigung und die sechsjährige Arbeit an ihrem Buch scheinen auch eine heilende Wirkung zu haben: „Heute ist meine Traurigkeit verschwunden.“ Der Gedanke an den Toten und die Gräuel im Nationalsozialismus verfolgen sie nicht mehr.

Auch Mitscherlichs „Die Unfähigkeit zu trauern“ verhalf der reflektierten, psychologisch gebildeten jungen Frau zu einer anderen Sicht: verstehen und nicht richten! Gab es kollektive Reue oder Scham? Illusionslos ihre Antwort: „Die Deutschen lebten weiter, als hätte es das Dritte Reich nie gegeben.“

Mit ihrem Buch, das ihr den Weg aus der Lebenskrise wies, will die Schriftstellerin ein Zeichen setzen für Geradlinigkeit und den offenen Umgang mit der eigenen Geschichte – gegen Hass und Hetze. Es sei wichtig, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und sich für menschliche Werte einzusetzen und diese zu verteidigen. Es sei nicht einfach gewesen, diese Familienchronik zu Papier zu bringen. „Ich hätte mir einen anderen Großvater gewünscht, aber immer wieder genau diese Großmutter.“ Mit ihr verbindet sie ein „Gefühl der Wärme“ ihrer ersten Kindheit, der „Liebe für schöne Dinge, die auch ein wenig mehr kosten dürfen“ und die Geselligkeit. Aber auch uneinsichtig und unbelehrbar sei sie bis zu ihrem Selbstmord 1983 gewesen: „ …am Ende des Lebens immer noch wütend auf andere“ und „in ihrem Abschiedsbrief keine Erwähnung der Opfer“. Bis zu ihrem Tode hing das Konterfei des Massenmörders, den sie fast 30 Jahre überlebt hat, über ihrem Bett.

Teeges Plädoyer gilt der Empathie, der Fähigkeit, „mitzudenken und mitzufühlen“. Als elegante und kluge Botschafterin setzt sie sich ohne jegliches Lamento für den Frieden ein, auch für den mit sich selbst! Ihre Aufforderung an die Schulen: Erziehung zur Menschlichkeit könnte ein hohes Verantwortungsgefühl fördern und so jeglicher Gewalt entgegenwirken.

Erinnerungskultur als Teil der Europäischen Idee – der Kreisau Kreis

Jennifer Teeges Vortrag erntete respektvollen Applaus: Schuldirektor Martin Peppler war ebenso voller Dankesworte wie Ex-Bürgermeister Temmen, seit Juli Vorsitzender der Lions Kronberg. Die Schüler*innen der Kreisau AG waren bestens vorbereitet, um auch ihrerseits mit teils sehr persönlichen Fragen an die Autorin möglichst viel von deren Wissen zu profitieren.

Der Kreisau Kreis, mit der Kreisau AG an der AKS, arbeitet gemeinsam an der europäischen Idee und ermöglicht Treffen, das nächste 2023, von Jugendlichen aus Spanien, Polen, Tschechien, Belarus und Deutschland im polnischen Kreisau.

Jennifer Teege hat sich von ihrem dunklen Familiengeheimnis in vielen Dialogen und mit ihrem Buch über ihren Großvater Amon Göth befreit: „Amon. Du hättest mich erschossen“.

Foto: Sura



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