Kronberg (aks) – Nein, er schleicht nicht im halboffenen Trenchcoat mit lüsternem Blick auf die Bühne. Der „Sittenstrolch“ alias Mathias Tretter sieht ganz manierlich aus und posiert im feinsten Zwirn auf der Bühne. Seine Kronberger (und Umgebung) Fans sind nach fast vier Jahren fast alle wieder bei Kabarett im Kino versammelt und warten auf die selbstironisch beißende Comedy des Würzburger Franken, heute Wahl-Leipziger. Den Strolch nimmt man Mathias Tretter mit seinen schonungslosen Pointen ab, das mit der Sitte eher nicht. Da, wo man schlüpfrige Monologe erwartet hätte, bleibt Tretter präziser Beobachter des Zeitgeists und sieht den Sittenverfall vor allem im Internet. Dort, wo sich Menschen beliebig Bedeutungsloses mitteilten, Sex nur noch virtuell stattfinde und sich Menschen (?) gegenseitig beim geringsten Anlass zu Wut und Hass anstachelten. „Früher gab es Gesetzestreue, heute den Furor der 30-Jährigen im Internet“. Vor lauter Sexismus-Debatten immer weniger Sex: „Überall Geschlecht, weniger Verkehr, früher Sex, heute Gender.“ Die Körper würden optimiert, aber kämen gar nicht mehr zum Einsatz. Keiner wolle mehr was riskieren. Hieß es früher, kommst du noch rauf auf einen Kaffee, gäbe es heute nur noch Kaffee. Wurden früher Ehepartner von den Eltern ausgesucht, würden die Rolle heute Algorithmen übernehmen: Programmierer steuern das Geschlechtsleben und finden den idealen Partner: „Alle elf Minuten verliebt sich ein Mensch im Internet, alle elf Monate sind sie wieder getrennt.“
Mathias Tretter seziert die Dinge so haarscharf, dass es weh tut. Mathias Tretter ist am Puls der Zeit mit seiner gnadenlos messerscharfen Wortwahl, auch beim Versuch einer politisch korrekten und vor allem gewaltfreien Gender-Sprache, die er ad absurdum führt. Das Publikum lacht trotz des Zerrspiegels, den Tretter ihm vorhält. Sein Publikum ist auf Augenhöhe, ist schnell im Kopf und beklatscht seine Pointen, die er wie ein Maschinengewehr abfeuert. Die anhaltenden Lacher kommen von Herzen und sind ein Zeichen, dass viele ihn und seinen Humor kennen und lieben. Von dieser Heiterkeit lässt man sich gern anstecken.
Auf ins chinesische Jahrhundert
Im Dialog immer virtuell dabei, sein Jugendfreund Ansgar, der aktuell nur noch eine 16tel Stelle als Dozent für Philosophie inne hat, dafür aber seit Neuestem mit Cheng Li, einer chinesischen Pianistin „li-iert“ ist, die er beim Dating-Portal für Intellektuelle kennen gelernt hat und die sich für die Ehe aufspart. Warum sie sich ausgerechnet Ansgar ausgesucht hat? Die Antwort hat der zukünftige Gatte auf Fränkisch parat: „Die wollen was Scharfes aus Europa, die wollen Geist – den Geist von Bach und Mahler.“ „So wie Mao einst die Künstler zu den Bauern holte, holt sich Cheng Li jetzt den Bauern ins Haus“, so sein resignierter Freund.
China sei das Land, „das 50 Jahre hinterher war und nun 20 Jahre voraus“: „Sie leben in der Zukunft, wir in der Vergangenheit“. Das ganze Land ein Callcenter, 1 Milliarde Chinesen nutzt „We chat“, dazu 500 Millionen Überwachungskameras, Punktesysteme und Umerziehungslager – und Oligarchen, die sieben Mal so viel Bordeaux („on ice“) trinken, wie in Frankreich hergestellt wird. Dabei produziert das Land Hochtechnologie für die ganze Welt, aber betreibt Märkte wie im 12. Jahrhundert, wo das Volk „das orale Verhalten Dreijähriger pflegt“.
„Würde ist, wenn man trotzdem lacht“
Die Menschen zum Lachen zu bringen sei sein Beruf, doch im Lockdown und „fünf Sommerpausen in zwei Jahren“ gebe es immer sofort moralischen Druck. Gegen den oft gehörten Satz helfe kein Humor: „Weißt du eigentlich, was auf den Intensivstationen los ist?“ Dieser Stimmungskiller zieht sich durch sein Programm wie ein Leitmotiv. Auch da, wo er nicht passt, wird er eingeflochten und das ist in der Wiederholung urkomisch. Ohne Kneipen wäre er jetzt Voll-Alkoholiker, und die Gastronomie sei auch heute die Rettung: „mit Licht und Wärme ohne Sperrstunde“.
Zeitenwende
A propos Kulinarik: Kennen Sie auch, die Neo-Restaurants, in denen Sie ein Kellner mit Vollbart fragt: „Was magst du denn?“ Am liebsten würde Tretter „Völkermord und Analverkehr“ antworten, ist sauer, weil er nicht geduzt werden möchte. Sein Tipp: Solche „Kulturbetriebe“ betrete man am besten „schlampig“, denn die im Anzug würde man für die Gewerbeaufsicht gehalten. In den neuen Feinschmecker-Oasen erzählt der Koch Geschichten von seiner „Kindheit im Gärkeller“ und das motiviert ihn: „Der Gast müsse den Koch schmecken“ – und die Gäste müssten das essen. Fermentiertes sei gerade in Mode, „Sauerkraut aus Tee der Ming Dynastie in Franken hergestellt“ und dazu einen 82er Bordeaux auf Eis: „Scheiße, aber authentisch!“. Man frage nicht nach Wünschen, sondern nach Allergien.
In Zeiten der Inflation sei seine Devise: „Hauen Sie das Geld raus, in einem Jahr kriegen Sie nur noch die Hälfte – auch von mir!“ Dabei fragt er sich insgeheim, ob er dann auch mal in Naturalien bezahlt würde, schmunzelt Tretter. Dass deutsche Behörden die Raumtemperatur „runterregeln“ hält er für sinnvoll, „da Beamte schneller faul werden. Denn: Kälte konserviert“.
Eher Tausendsassa als Sittenstrolch, dem seine vielen Geistesblitze sicher nicht beim „Strolchen“, sondern in der präzisen Analyse der hochbrisanten Weltkrisen einfallen, kamen in den Kronberger Lichtspielen seine Geistesblitze gut an. Seine peniblen Recherchen sind nicht nur gut für den Geist, sondern kitzeln die Seele aufs Allerfeinste. Die Fans honorieren so viel bösen Wortwitz, seine scharfe Analyse der aktuellen „Zeitenwende“ mit begeistertem Applaus. Mathias Tretter ist ein kluger Mahner vor einer Zukunft, die gar nicht so trüb, aber eben gefährlich gelb werden könnte. Auf Putin und seinen Angriffskrieg ging er nicht ein, aber das ist ja auch nicht lustig!
Nach vier Jahren Pause Mathias Tretter als „Sittenstrolch“ im Kronberger Kino, der die Zeitenwende seziert und vor gefährlich gelben Zeiten warnt.
Foto: Sura