Sängervereinigung 1861 Oberhöchstadt Ein Rückblick auf 160 Jahre Gemeinschaftsgeist

Die Sängervereinigung 1861 Oberhöchstadt bei einem Auftritt in Jugoslawien 1980. Ruth Manier, die heute noch im Chor mitsingt, ist in der ersten Reihe als Fünfte von links zu sehen. Fotos: privat

Oberhöchstadt. – Die Sängervereinigung 1861 Oberhöchstadt wird in diesem Jahr 160 Jahre alt. Auch wenn sich in den zurückliegenden Jahrzehnten das Liedgut und die Rahmenbedingungen für das Singen geändert haben, ist eines unverändert geblieben: Im Chor treffen sich Gleichgesinnte und es wird die Gemeinschaft gepflegt – notfalls auch ohne Singen. Wie wichtig das ist, lässt sich an Beispielen aus den vergangenen Monaten zeigen.

Peter Sachs (82) ist seit 1962 Mitglied der Sängervereinigung. In den Monaten, als sich der Traditionschor „Cantiamo“ coronabedingt nicht zu den mittwöchlichen Proben im Haus Altkönig treffen konnte, kümmerte er sich um die Sängerinnen und Sänger: Erst mit Anrufen, später mit kleinen Geschichten, die er einmal pro Woche per E-Mail oder Brief verschickte.

Dazu muss man wissen, dass die meist älteren Mitglieder dieses Chors nicht über ausreichend moderne Technik verfügen, um an Online-Proben teilzunehmen. Peters Geschichten kamen sehr gut an. Als er sie kürzlich einstellen wollte, weil der Probenbetrieb wieder läuft, wurde er gebeten, weiterzumachen. „Ich hatte mehrere Zuschriften, die haben das bedauert, und da mache ich eben weiter“, erzählt er.

„Vox Musicae“, der Rock- und Popchor der Sängervereinigung, konnte sich während der Monate ohne Proben im Haus Altkönig mit Online-Proben der einzelnen Stimmgruppen behelfen. So wurde eine gewisse Probenroutine aufrechterhalten, Texte und Melodien blieben in Erinnerung und es wurde geplaudert. Diesen Proben fehlt allerdings genau das, was den Reiz des Chorgesangs ausmacht: Die eigene Stimme erklingt nicht zusammen mit den anderen Stimmen, es gibt kein Chorgefühl.

So kam es, dass die regulären Proben manchmal schlechter besucht waren als die anschließende Online-Plauderstunde. Auch Vox Musicae probt inzwischen wieder gemeinsam und für Januar ist wieder das beliebte Probenwochenende in der Jugendherberge Kaub geplant. Aber einige Frauen des Chors wollten nicht mehr so lange warten und verbrachten kürzlich zusammen ein Wochenende in Butzbach.

Den Gemeinschaftsgeist fand auch Ruth Manier (90) am schönsten, als sie im Jahr 1962 Mitglied der Sängervereinigung wurde. Sie erzählt: „Wir waren eine Gemeinschaft von 15 Familien. Wenn gefeiert wurde, waren alle Tische voll, nicht nur fünf oder sechs. Es hat mir geholfen, hier heimisch zu werden, denn wir sind ja erst 1962 von Oberursel hierhergezogen.“

Ruth Manier erinnert sich, dass die Frauen Frühjahrs- und Herbstwanderungen machten – zum Fuchstanz, zur Saalburg oder zum Rettershof – und die Männer ihren Vatertagsausflug. „Beim Wandern wurde gesungen.“ Es gab chorinterne Skatrunden, es wurde gekegelt, sogar die Partnerstädte Le Levandou und Porto Recanati wurden besucht, außerdem die befreundeten Chöre in den schweizerischen Orten Grenchen und Lengnau sowie Jugoslawien.

Als Ruth Manier zur Sängervereinigung kam, hatte der Verein im Vorjahr gerade sein 100. Jubiläum gefeiert. Dirigent war Carl Kümmel, der seit 1928 einen Vorgängerchor der Sängervereinigung leitete, den Männergesangsverein „Germania“. Als Kümmel nach über 40 Jahren ausschied, kam mit Max Zimmermann ein deutlich jüngerer Chorleiter. „Der brachte eine ganz andere Chorliteratur mit, mit ihm haben wir ‚Die schaffenden Hände‘ aufgeführt“, erinnert sich Ruth Manier.

Das war nach Maniers Erinnerung ein großes Werk mit zwei Chören, einem Orchester und einem Akkordeonorchester. „Zimmermann war ziemlich streng und wenn wir falsch sangen, sagte er: ‚Ich erschieß euch noch …‘ Ich hatte ihn am liebsten, wenn er ein kleines bisschen betrunken war.“

Die Chorjubiläen wurde in jener Zeit mit einem heute unvorstellbaren Aufwand begangen: „1961 und 1978 zum Beispiel dauerten die Festlichkeiten mit Fackelzug, Kommers und Wertungssingen volle vier Tage und es gab eigens aufgebaute Festzelte“, erinnert sich der ehemalige 1. Vorsitzende Herbert Aulbach. Später verzichtete man dann auf Zelte, weil es nicht mehr genug Helfer gab, und zog um ins Haus Altkönig.

Klagen darüber, dass es früher besser gewesen sei, gibt es natürlich auch in Chören. Manier zum Beispiel meint: „Man ist damals regelmäßiger zur Singstunde gegangen. Keine Lust, das gab‘s nicht.“ Aber Beschwerden über eine mangelnde Probenteilnahme der Mitglieder und ihr verspätetes Erscheinen bei Proben lassen sich anhand der Protokolle von Jahreshauptversammlungen bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen.

Schon zum 100. Jubelfest 1961 beklagte der damalige Festpräsident Fritz Hofmann die „Schnelllebigkeit der Zeit“, die keinen großen Raum mehr für musische Betätigung lasse. Zehn Jahre später konstatierte die vom heutigen Ehrenmitglied Robert Becker verantwortete Festschrift, dass „Unterhaltungsmöglichkeiten durch Rundfunk und Fernsehen“ das Bedürfnis nach Unterhaltung im Verein und das Gemeinschaftsgefühl verblassen ließen.

1961 war allerdings genau genommen nicht der 100. Geburtstag der Sängervereinigung, sondern ihres ältesten Vorgängervereins, der „Germania“, den 33 Männer im Jahr 1861 gründeten. Die heutige Sängervereinigung ist nämlich das Produkt mehrerer Zusammenschlüsse. Die „Germania“ pflegte nicht nur deutsches Liedgut, sondern auch das Laientheater.

Zweiter Oberhöchstädter Gesangsverein war der „Männergesangsverein“, der 1876 im Gasthaus „Zum Taunus“ (heute „Brunnenschänke“) gegründet wurde. Dritter im Bunde wurde 1894 der Arbeitergesangsverein „Gleichheit“, der erste gemischte Chor, der besonders die Operette pflegte. 1922 schließlich wurde das „Schreibweiß’sche Männerquartett“ gegründet, das 1933 mit der „Germania“ fusionierte. Im gleichen Jahr wurde die „Gleichheit“ verboten und die „Sangesbrüder“, wie es in der Chronik zum 100. Bestehen im Jahr 1961 heißt, schlossen sich anderen Vereinen an.

Über die Jahre 1933 bis 1945 schweigen die nach dem Krieg erstellten Chroniken. Protokolle der Jahreshauptversammlungen dieser Jahre zeigen aber, dass die Nationalsozialisten auch hier den Ton angaben.

Nach dem Krieg löste die amerikanische Militärregierung alle Vereine auf. Es wurde eine Sport- und Kulturgemeinschaft gegründet, in der die Gesangsvereine aufgingen. 1952 wurde die heutige Sängervereinigung aus der Taufe gehoben und 1953 ein Frauenchor gegründet – zu Weihnachten traten Männer und Frauen erstmals gemeinsam auf. Die Zahl der aktiven Mitglieder verdoppelte sich. Allerdings blieben Männer- und Frauenchor trotz gemeinsamen Singens organisatorisch zunächst getrennt. In der Chronik „110 Jahre Chorgesang in Oberhöchstadt“ von 1971 werden beide noch gesondert aufgeführt und die Kassenführung blieb eine Zeit lang getrennt, wie die Festschrift „125 Jahre Sängervereinigung“ 1986 anmerkt.

In jenem Jahr feierte auch der heute nicht mehr existente Kinderchor sein 10. Jubiläum. Aus ihm gingen einige Mitglieder des 1994 gegründeten Chors „Vox Musicae“ hervor – zum Beispiel Martina Peiler, Simone Greß und Angelika Klein.

„Vox Musicae“ gehörte in jener Zeit zu den ersten Chören in der Region, die nicht mehr die klassische Chorliteratur pflegten, sondern im Prinzip das sangen, was im Radio lief: vor allem Rock und Pop. Geprägt wurden die ersten Jahre durch den Musiker und Musiklehrer Lotar Sommerlad. Seit 2008 ist die Sängerin und Gesangslehrerin Bettina Kaspary musikalische Leiterin von „Vox“ und seit 2011 auch die des gemischten Chors, der seit 2016 „Cantiamo“ heißt.

Bei „Vox“, wie die Mitglieder ihr Ensemble liebevoll nennen, kam es fortan nicht mehr nur auf den Ton an, sondern auf einen möglichst dynamischen Bühnenauftritt. Alle zwei Jahre wurde ein Programm auf die Bühne gebracht, in dem der Chor Lieder im Rahmen einer Geschichte präsentierte. Der Chor gewann Mitglieder aus umliegenden Orten, darunter Carlotta Mulliner und Jonathan Wrede, die eigene Arrangements schrieben. „Cantiamo“ präsentierte jedes Jahr ein Herbstkonzert. Beide Chöre singen natürlich auch bei vielen anderen Gelegenheiten.

Die Coronapandemie ist an „Cantiamo“ und „Vox Musicae” nicht spurlos vorbeigegangen. Ein Vox-Programm wurde zuletzt 2018 aufgeführt, die für 2020 geplante Aufführung des neuen Programms erst verschoben und schließlich ganz aufgegeben. Das letzte Herbstkonzert von „Cantiamo“ fand 2019 statt. Beide Chöre arbeiten aber daran, bald wieder auftreten zu können. Und es macht großen Spaß, wieder gemeinsam zu singen.

Hans Bentzien

Weitere Artikelbilder



X