128 Meter durch die Altstadt-Hölle

Rennfieber: Ziemlich genau 128 Meter rasende Abfahrt die Strackgasse hinunter, knapp 20 Sekunden höchster Adrenalinkick bis zum Abwinken mit der Zielfahne an der Hospitalkirche. Foto: Streicher

Von Jürgen Streicher

Oberursel. Rauchgranatenduft statt Benzingeruch in der Luft, Geschwindigkeitsrausch ohne schädlichen Energieverbrauch und vor allem jede Menge Spaß. Die Altstadt wird zum Motodrom ohne Motorenlärm, die Strackgasse zum Rennpflaster für Boliden der besonderen Art. Das Seifenkistenrennen mal wieder ein Highlight im bunten „Orscheler Sommer“. Die Stars dabei sind vor allem mutige Kinder in flotten Kisten, auch die Brunnenkönigin darf einmal die Kopfsteinpflaster-Hölle hinunterbrettern.

Wie sie sich hineinstürzen in die rasende Fahrt, mit Helm und Handschuhen, mit konzentriertem Blick und ohne Angst vor dem, was da auf den 128 Metern zwischen Start und Ziel auf sie warten mag. Zwischen der Treppe am Vortaunusmuseum und dem Zielstrich unten knapp vor der Hospitalkirche. Rund 200 Strohballen schützen die jungen Rennfahrer an beiden Seiten der Piste, sollte die fragile Lenkung auf dem holprigen Kopfsteinpflaster doch mal für einen Ausreißer sorgen. Kommt nur selten vor an diesem Tag, fast jede Fahrt wird unten von Ulla Hieronymi und Betty Broszat in roter Warnweste mit der professionell schwarz-weiß karierten Zielfahne abgewunken. Applaus für die Rennfahrer, jeder wird hier bejubelt, jeder ein Sieger.

Kampf um Zehntelsekunden

Eine kurze Ewigkeit so eine Fahrt in einer selbstgebauten Seifenkiste. Am Schwebebad vorbei, da babbeln ununterbrochen die Moderatoren Markus Hertle und die „Schüssel“. Dann das Artcafé Macondo auf der anderen Straßenseite, eine leichte Links-Rechts-Kurve, die man genau erwischen muss, um auf der Ideallinie zu bleiben. Die 18,40 Sekunden von Reinhold Wandel aus dem zweiten Lauf bleiben bis zum finalen Rennen die Top-Zeit. Um jede Zehntelsekunde wird gekämpft, mit Fahrkunst und Gewicht, bei fünf Prozent Gefälle kann ein bisschen Nachhilfe durchaus nützlich sein. Maximal 115 Kilogramm sind erlaubt, also Kiste plus Fahrer plus Zusatzgewichte. Darauf wird pingelig geachtet bei der technischen Abnahme vor dem Rennen. Peter Macho und Martin Steinmetz haben das im Griff, sie sind die Frontmänner im Kunstgriff-Team, das für die Organisation des Rennens verantwortlich zeichnet. Steinmetz liefert auch die Komplett-Radsätze mit Achse, Rädern, Lenkung und Bremsstange, Sicherheit ist bei den zum Teil abenteuerlichen Gefährten wichtig.

Anfänge vor 115 Jahren

Aber abenteuerlich darf es ruhig sein, so hat sich das „Orscheler Seifenkistenrennen“ entwickelt. Wer es noch nicht weiß, Oberursel gilt in der Szene und in den Geschichtsbüchern als die Wiege des Seifenkistensports. Als 1904 das legendäre Gordon-Bennett-Rennen für „richtige“ Automobilisten durch den Taunus führte und die Helden der Landstraße im Oberurseler Hotel Schützenhof logierten, lungerten die Buben der Stadt, die noch keine Handys hatten, dort rum, um einen Blick auf die Autos zu erhaschen. Bauten sie auf ihre einfache Art und mit ihren Ideen nach und fuhren ihre eigenen Rennen. Immer wieder, mal in tatsächlich rasender Fahrt die Königsteiner Chaussee von der Stierstadter Heide aus hinunter, später in der Altkönigstraße vom Schwimmbad zum Sportplatz hinunter, wo heute Stadtvillen stehen. Um die Deutsche Meisterschaft ging es da, um Startplätze bei Europa- und Weltmeisterschaften. Zuletzt zum 100-jährigen Jubiläum 2004.

Tradition verpflichtet, so sehen das die Epigonen der frühen Helden, die einst auch in den selbstgebauten Kisten mitfuhren. Martin Steinmetz und Peter Macho etwa, deren Söhne dann auch wieder eine Generation später am Start waren. Seit 2009 hat der Verein Kunstgriff das Startkommando übernommen, vor sechs Jahren wurde das Rennen vom Holzweg in die Strackgasse verlegt und hat nun vor der Altstadt-Kulisse mit St. Ursula die perfekte Atmosphäre gefunden. Und jedes Jahr neue Helden. Mädchen und Jungs, die sich in die Kopfsteinhölle stürzen. Am Ende ist es meist nur ein Ticken Technik oder Geschick, der über Sieg und Platz entscheidet. Nach fünf Läufen, von denen am Ende die besten vier gewertet werden, trennen die drei schnellsten Rennfahrer Reinhold Wandel, Marco Fleischer und Luciano Domröse in der aufaddierten Zeit nur knapp 1,2 Sekunden. Schlappe fünf Sekunden nur verliert die zehnjährige Luca Ramert mit ihrer tollen geflügelten Kiste, die auf jeder Fahrt von einer Wolke aus lila Rauch aus vier „Auspüffen“ begleitet wird. Platz zwölf, auch sie eine klare Siegerin.

Monarchie liegt vorn

Oh ja, auch Brunnenkönigin Pia I. war am Start, natürlich im Königinnenkleid. Sichere Fahrt, saubere Zeit, sogar zum Winken ins Publikum blieb noch Muße. Bürgermeister Hans-Georg Brum konnte ihre Zeit im Promi-Rennen auch ohne Winken nicht toppen. Ihre Gaudi wollen beim Seifenkistenrennen auch große Mädchen und Buben haben. Im Erwachsenenrennen waren 13 Teams am Start, Robert Flisar konnte sich nach drei gewerteten Läufen mit knappem Vorsprung auf Frank Metlicar über die Siegertrophäe freuen.

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