Anregende Diskussion bei der Lesung von „Kangal“

Gemeinsam am Büchertisch: die Autorin Anna Yeliz Schentke, die Moderatorin Canan Topcu und Antonia Stock (v. l.) von der Buchhandlung Libra.Foto: bg

Oberursel (bg). „Passport fragen sie am Flughafen. Ich habe den Pass in der Hand. Wenn sie ihn dir nehmen bist du niemand mehr. Ich gehe, bevor passiert, was anderen schon passiert ist, und ich gehe nur jetzt schon, weil ich es kann. Ich sehe, wie andere nicht mehr fliegen können, wie sie schwimmen müssen, wie sie sterben“.

O-Ton im Kulturcafé Windrose. Ohne viel Federlesen und Vorstellung startet Anna Yeliz Schentke die Lesung aus ihrem Debütroman „Kangal“. Es ist ein atemloser Ton, frei von Wertungen oder erhobenem Zeigefinger. Zu hören sind in den einzelnen Passagen, die Stimmen von Dilek, Tekin und ihrer Cousine Ayla. Das junge Paar Dilek und Tekin lebt in Istanbul. Nach dem Putsch 2013 hat sich die Stadt verändert. Das Paar gehört zu einer Gruppe von Studenten, die als Netzaktivisten gegen das Regime politisch Stellung beziehen. Schleichend breitet sich die Angst unter ihnen aus. „Sie ist nachhaltig und wendig“, schreibt die junge Autorin. Dilek beschließt abzuhauen und flüchtet nach Deutschland zu ihrer Cousine Ayla, ohne ihren Freund Tekin darüber zu informieren. In kurzen Abschnitten kommen die drei Protagonisten zu Wort. Sie beschreiben dieselbe Situation aus ihren unterschiedlichen Perspektiven. Damit stellen sie den Lesern die komplexen und widersprüchlichen Verhältnisse in der Türkei und der in Deutschland lebenden Türken sehr eindrucksvoll vor.

Mit ihrem Erstlingswerk hat es Anna Yeliz Schentke im vergangenen Jahr auf Anhieb auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft. Im Jahr 2023 wurde sie von der Jury des Bad Homburger Hölderlin-Preises mit dem Förderpreis geehrt. Ihr Roman trifft den Ton einer Generation, die Deutschland wie in der Türkei zu Hause ist. Sie lebt in Frankfurt, wurde dort 1990 geboren und studiert Literaturwissenschaften. Moderiert wurde die Lesung von Canan Topcu. Die freie Journalistin, die viele Jahre als Redakteurin für die Frankfurter Rundschau tätig war, arbeitet als Dozentin an der Hochschule Darmstadt. Sie hat den Eindruck, so manche Erdogan-Anhänger denken zu wenig nach, überlassen das lieber anderen und begeben sich viel zu oft in die Opferrolle. Besonders gefällt ihr an „Kangal“ der unaufgeregte Ton, die Autorin arbeite nicht mit Schuldzuweisungen. Schnell entwickelt sich im Kulturcafe eine rege Diskussion. Vom Erfolg ihres Erstlings war sie sehr überrascht, damit hatte sie nicht gerechnet, erklärte die Autorin, und das sie Fragen zur ihrer Person nicht besonders mag, lieber diskutiere sie über das Buch. Auch die dargestellten Personen seien ihr nicht immer sympathisch. Seit 2015 war sie nicht mehr in der Türkei und habe auch nicht vor, dorthin zu reisen. Auf die Frage, wie sie am besten schreiben könne, lautet die klare Antwort „unter Druck“. „Passt“, meint dazu die Moderatorin und zitiert den berühmten Publizisten Alfred Kerr mit den Worten „Termindruck ist die beste Inspiration“. Eine Frage aus dem Publikum betrifft die kürzlich in der Türkei stattgefundenen Wahlen: Wie könne es sein, dass in Deutschland lebende Türken mit Doppelpass an diesen Wahlen teilnehmen dürften. Das sei doch nicht richtig. „Kangal“ ist übrigens der Name für einen besonders treuen und wehrhaften Hirtenhund in der Türkei, der es auch mit Wölfen und Bären aufnimmt, auch dieser Namen war einigen Zuhörern bekannt.

Im Anschluss signiert Anna Yeliz Schentke noch ausgiebig ihren Roman. Er ist im Jahr 2022 im S. Fischer Verlag Frankfurt erschienen, umfasst 208 Seiten und kostet 21 Euro.

Veranstaltet wurde diese aufschlussreiche Lesung von Literatouren. Kultur in Oberursel in Kooperation mit dem Kulturcafé Windrose.



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