Damals der Weg zum Friedhof – heute Stadtboulevard

ow-Damals der Weg

Von Steffen Haffner

Oberursel. Die Adenauerallee ist der

große Boulevard von Oberursel. Und

doch ist sie kein Kudamm und keine

Kö. Die Allee führt anders als der

Kurfürstendamm in Berlin oder die

Königsallee in Düsseldorf nicht mitten

durch die Stadt. Sie bietet vielmehr mit

ihrem weiten Raum einen wohltuenden

Kontrast zur verwinkelten Altstadt und

zur geschäftigen Enge der Vorstadt.

Jeden dritten Samstag im Monat macht

sich hier der über die Stadt hinaus

beliebte Flohmarkt mit 210 Ständen

breit.

Im Grunde genommen ist die Allee dreigeteilt. Die kleine lauschige Straße im Osten führt ein stilles Eigenleben. Hier lässt es sich behaglich wohnen. Im westlichen Teil der Allee braust der Durchgangsverkehr vorbei an Gebäuden, die in ihren unterschiedlichen Stilarten an ein Patchwork erinnern. Hier findet sich allerlei Gewerbe von einem „Phone-Shop“ über eine Bank, eine Fahrschule, ein Reisebüro, zwei Blumenläden. Dazwischen ein Straßen-Café, eine Pizzeria, ein Kebap-Haus, eine Kneipe namens „Alemannia“, wo unter diesem Namen einst ein Kino zu finden war. Die Allee war früher reich mit Gaststätten bestückt vom „Frankfurter Hof“ über den „Schützenhof“ bis hin „Zum Bären“. Die Häuserreihe endet „unten“ nahe der Schranke an einem „Ristorante“. In dessen Nachbarschaft bilden vier denkmalgeschützte Villen einen reizvollen Gegensatz zu der gemischten Bebauung.

Das Herzstück der Adenauerallee ist ihr Mittelteil, der seinerseits zweigeteilt ist. Zwischen der Durchgangsstraße und der breiten Grünanlage führt ein langer geteerter Weg, der sich südlich der Schranke in der Frankfurter Landstraße bis zum Alten Friedhof fortsetzt. Vom 17. Jahrhundert an wurden dort die Verstorbenen, weit von der heutigen Altstadt entfernt, an der Kreuzkapelle beigesetzt, die im Jahr 1618 als Dank für eine überstandene Pestepidemie errichtet wurde. Wegen der Pest hielt die kleine, durch die Seuche dezimierte Einwohnerschaft – 1605: 220 Haushalte, etwa 1100 Einwohner, 1648 am Ende des Dreißigjährigen Kriegs: 164 Haushalte, etwa 820 Einwohner – Abstand und schloss 1618 den Kirchhof von St. Ursula. Die Trauerzüge durchquerten von nun an die sogenannte Au, die eine Stätte für Jahrmärkte und allerlei Volksfeste war.

Teilung durch die Eisenbahn

An dieser Verbindung zwischen der Bären-Kreuzung und dem Alten Friedhof, die 1860 durch den Bau der Eisenbahnstrecke zwischen Frankfurt und Homburg durchschnitten wurde, symbolisieren seit 1712 sieben Stationen den Kreuzweg, den Leidensweg Jesu. Dazu passt das Sandsteinkreuz im oberen Teil der Allee. Sein Vorgänger war ein Holzkreuz, das die nach dem Abzug der Schweden zum katholischen Glauben zurückgekehrten Oberurseler 1635 errichtet hatten. Es wurde eines Tages abgeschlagen und im Jahr 1723 durch ein neues Kreuz ersetzt, dessen Standort im 19. Jahrhundert ein Stück versetzt werden musste, ehe es 1969 seinen jetzigen Platz erhielt. Die heute kaum noch leserliche Inschrift lautet: „Zu Ehren des gecreuzigten Herrn Jesu Christi ist dieses Crucifix da aufgerichtet worden von S. S. Anno 1723.“ Mit Fug und Recht wurde dieser Abschnitt im Volksmund „Kreuzallee“ genannt, nachdem vorher schon die Bezeichnung „Kreuzkapellen-Allee“ üblich war. Doch auch der Name „Kastanien-Allee“ wurde gängig. Um den Erhalt der Bäume, die unter Hitzeperioden und unter dem Befall durch die Miniermotte zu leiden hatten, kämpften immer wieder engagierte Bürger. 1994 verhinderten sie den Kahlschlag. Im Oktober 2009 mussten die alten dann doch neuen, widerstandsfähigeren Kastanienbäumen weichen, die als Ergebnis einer Spezialzüchtung keine Kastanien mehr abwerfen.

Die unterschiedlichen Namen der Allee spiegeln die wechselvolle Geschichte. Zwischen 1870 und 1933 hieß sie schlicht „Frankfurter Straße“. Heute ist daraus südlich der Schranke die Frankfurter Landstraße geworden. Im „Dritten Reich“ am 20. April 1933, dem Geburtstag des „Führers“, benannte der Magistrat die Allee eilfertig in „Adolf-Hitler-Allee“ um. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hing dort für ein paar Wochen ein Schild „Eisenhower-Allee“, ehe im Juni 1945 daraus einfach die „Allee“ wurde. 1946 lehnte der Magistrat mit 7:5 Stimmen den Vorschlag der SPD ab, die Allee nach den Widerstandskämpfern Geschwister Scholl zu benennen. 1967 wurde die Allee nach Konrad Adenauer, dem ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, „Adenauerallee“ getauft. Sie ist Flaniermeile für Spaziergänger und vor allem Verbindungsstück zwischen Vorstadt und Bahnhof, auf dem nicht zuletzt Berufstätige per Fahrrad oder per Pedes zu S- oder U-Bahn eilen oder beschaulicher dem Feierabend zustreben.

Betonklotz an historischem Ort

Das zwölfstöckige Hochhaus an der Bärenkreuzung wirkt wie ein Fremdkörper. Doch der Betonklotz gehört mit einer Drogerie, einer Apotheke, der Post, einem Fitness-Studio sowie 56 Miet- und Eigentumswohnungen ebenfalls zur Adenauerallee, auch wenn an dieser Stelle ein Schild mit dem Straßennamen fehlt. Dem Bau musste 1968 der „Schützenhof“ mit seinem idyllischen Sommergarten weichen. Von den beiden großen Platanen vor der Herberge steht eine noch an der Bärenkreuzung mitten auf dem Bürgersteig. 1807 war das Hotel, das bis Ende der 1930er-Jahre als „das erste Haus am Platze“ galt, eröffnet worden. Nach dem Krieg wurde das Hotel von den amerikanischen Besatzungstruppen in Beschlag genommen, danach teilweise vermietet, aber nicht mehr als Hotel benutzt. Sein Zustand hatte erheblich gelitten, was seinem Abriss Vorschub leistete.

Vermutlich würde heute der Denkmalschutz diesen rigorosen Akt schon wegen der historischen Wurzeln verhindern. Denn hier lag seit Mitte des 15. Jahrhunderts der Schießplatz, auf dem die Oberurseler Schützen zur Verteidigung der Stadt den Gebrauch ihrer Waffen übten. 1683 erhielten sie mit dem Neubau eines Schützenhauses ein festes Domizil, in dem auch die Geselligkeit nicht zu kurz kam. Später entstand zusätzlich ein Flachbau mit der Schießanlage.

Auf dem Hochhausprojekt lag kein Segen. Im November 1970 wurde die Eröffnung des „Kaufhaus Braun“ gefeiert. Drei Jahre später zog hier mit großem Werbegetöse das „Kaufhaus der Mitte“ ein. Doch auch das „KdM“ konnte sich nicht am Markt durchsetzen und musste 1983 nach einem Konkurs schließen. Schwierige Eigentumsverhältnisse trugen über lange Jahr zu erheblichen Leerständen bei, bis das Hochhaus im Jahr 2007 für 3,5 Millionen Euro zwangsversteigert wurde. Damit war der Plan des Magistrats, einen Batzen Gewerbesteuer zu generieren, geplatzt. Erst 2012 erfolgte unter dem Namen „Adenauer-Zentrum“ ein neuer Anlauf. Die damals beschlossene Aufteilung des Gebäudes hat bis auf den heutigen Tag Bestand. Mittlerweile haben sich die Oberurseler mehr oder minder an das „City-Center“, wie es meist genannt wird, gewöhnt.

Versammlungsort der Waldgenossen

Am Hochhaus beginnt die breite Grünanlage, die mit historischen und anderen Sehenswürdigkeiten bestückt ist. Seit 2009 ist jetzt ein Taubenhaus „das erste Haus am Platze“. Zehn, zwölf Meter daneben erinnert ein Gedenkstein an die weithin bekannten „Märkergedinge“. Seit dem 14. Jahrhundert trafen sich hier am Hauptgerichts- und Versammlungsort der Hohe-Mark-Waldgenossenschaft alljährlich am 25. November, dem St.-Katharinen-Tag, die Märker von mehr als 30 Ortschaften zwischen Nidda und Weil, um die Bewirtschaftung des Walds zu regeln. 1813 wurde die Auflösung der „Hohe Mark“ auf dem Großen Feldberg feierlich besiegelt. Aus dem sogenannten Gemeinwald wurde nun der Staats- und Gemeindewald.

Zwei riesige Bäume setzen in der Parkanlage kräftige Akzente. Im oberen Teil überragt die „Kaisereiche“ ihr Umfeld. Sie soll an die Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871 erinnern. Im unteren Teil des breiten Grünstreifens beherrscht die ausladende Atlas-Zeder die Szenerie. Sie wurde im Jahr 1879 zur Goldenen Hochzeit von Kaiser Wilhelm I. und seiner Gattin gepflanzt und wirkt wie eine Schwester der Zeder am Bad Homburger Schloss. Zurecht waren die Eiche und die Zeder mit den Schildern „Naturdenkmal“ versehen worden. Beide Schilder wurden entwendet und sollen demnächst ersetzt werden. Es wäre schön, wenn auch Infotafeln angebracht würden, die Auskunft über Sinn und Herkunft der Bäume geben.

Ikarus und die Krieger

Zwischen der Eiche und der Zeder fällt die silbern glänzende Skulptur „Ikarus“ ins Auge. Sie wurde von Angelina Androvic Gradisnik geschaffen und vor dem Haupteingang von Aero Lloyd in der Lessingstraße platziert. Auftraggeber war Boromir Gradisnik, der Gründer des Unternehmens und Ehemann der Künstlerin. Nach dem Ende von Aero Lloyd wurde die Skulptur 2012 von Privatleuten erworben und der Stadt als Dauerleihgabe zu Verfügung gestellt.

Oberurseler Bürger finanzierten auch das aus „Main-Sandstein“ errichtete Kriegerdenkmal. Spenden haben seinen Bau ermöglicht. Seine pathetische Inschrift sagt etwas über den Zeitgeist jener Jahre aus: „Zum Gedächtnis an den ruhmvollen Krieg Deutschlands mit Frankreich 1870/71.“ Seine Besonderheit: Die 69 Namen, die auf drei Seiten des Denkmals zu lesen sind, würdigen den Fronteinsatz von überlebenden Oberurseler Soldaten. Eine Seite ist den „nur“ drei Gefallenen gewidmet. Das Denkmal wurde erst im August 1895 im Beisein von Kaiserin Friedrich (bis 1888 hieß sie Kaiserin Victoria.) enthüllt. Querelen hatten die Einweihung um 24 Jahre verzögert. Denn zahlreiche Oberurseler forderten ihre Spenden zurück. Sie wollten, dass alle 101 zum Dienst eingezogenen Oberurseler auf dem Denkmal genannt werden und nicht nur die Frontsoldaten.

Luftbrücke in die Welt

Der 1901 installierte Springbrunnen, der als „Krönung der Oberurseler Wasserleitung“ geplant war, und ein rätselhaftes Häuschen beschließen den grünen Teil der Allee. „Butineur Urbain“ nennt sich das Gebilde, das, wie die Inschrift verrät, ein Bienenhaus der besonderen Art ist. Das doppelte Kunstwerk, das aus Anlass des 50. Jahrestags ihrer Partnerschaft zur gleichen Zeit in den Städten Épinay-sur-Seine bei Paris und in Oberursel eingeweiht wurde, beherbergt jeweils ein Bienenvolk. Damit soll in einer symbolischen Luftbrücke die enge Beziehung der beiden Städte dargestellt werden. Das ist ein passender Schlusspunkt der Adenauerallee. Sie lädt als Visitenkarte Oberursels ihre Gäste ein und ist zugleich eine wichtige Verbindung zur Außenwelt.

Wo bis 1968 der traditionsreiche Schützenhof das Bild geprägt hat, steht heute das zwölfgeschossige Wohn- und Geschäftshaus, das 1970 als „Kaufhaus Braun“ eröffnet wurde und nun „Adenauer-Zentrum“ heißt. Die frühere Idylle ist der vermutlich deutschlandweit verkehrsreichsten „verkehrsberuhigten Zone“ vor dem Haus gewichen.Fotos: Stadtarchiv/Bachfischer



X