„Fragen Sie mal die Fischfrau!“

„Ich hör’, was die Kunden sagen, da gibt es längst nur noch eine Richtung“, sagt Andrea Vogt. Ihr Stand zwischen Café Heller, Tiefgarage, Glaspyramide und Villa Kursana ist ein Beispiel für die großzügige Aufstellung der Marktstände auf dem Epinay-Platz. Foto: js

Von Jürgen Streicher

Oberursel. Braucht der Wochenmarkt den Marktplatz? Oder braucht der „Marktplatz“ in der historischen Altstadt den Obst- und Gemüse-Markt? Oder doch nur der Markt einen Markt-Platz, der durchaus auch Epinay-Platz heißen könnte? Fragen, die Stadtgesellschaft, Ortspolitik, das Marktvolk und seine Kunden immer wieder beschäftigen, seit die Sanierung des Marktplatz-Areals vor ungefähr zwei Jahrzehnten vorübergehend zu erfolgreichen Experimenten zwang. Jetzt gehen die Befürworter der Markt-Neuzeit mit einer Unterschriftenaktion mal wieder in die Offensive.

Samstagmorgen, halb elf Uhr, es herrscht Leben auf dem Epinay-Platz in der Mitte der Stadt. Viele Menschen vor und hinter den Ständen, aber kein Marktgedränge. Das würde auch nicht in die Zeit passen. Es ist Platz genug da für alle. Entspanntes Einkaufen trotz Mund-Nase-Maske und Abstandsgebot, die Kommunikation läuft über etwas mehr Distanz, aber keineswegs distanzierter. Die Kundschaft wächst, das bestätigt hier fast jeder Händler, die Zufriedenheit der Kunden wächst mit dem Angebot und der Einkaufsqualität. „Hier ist Platz, hier komme ich gut mit dem Rollator durch“, sagt eine ältere Dame, die in der benachbarten Seniorenresidenz wohnt. „Meine Enkelin hat einen Doppel-Kinderwagen, auch das geht hier.“ Auf dem historischen Marktplatz unterhalb von St. Ursula geht das nicht. Dort ist das Einkaufen für Menschen mit Einschränkungen in der Bewegung nur unter erschwerten Bedingungen möglich.

„…wo die Leute zufrieden sind“

„Man muss mit der Zeit gehen“, sagt Carlo Fydrik, selbst alter Orscheler und seit Jahrzehnten Marktbeschicker, an diesem Samstag mit Blumen und Erdbeeren. Die Argumente für einen Abschied vom alten Marktplatz sind nicht neu. Der schiefe Untergrund, auf dem die Händler sich und ihren Stand über viele Stunden ausbalancieren müssen, das holprige Geläuf, die Gefahren, wenn es nass und glitschig ist, „im Winter kein Salz, kein Splitt und die Unfallgefahr, und dann noch der Zirkus mit dem Parken“, so Fydrik. Der Markt, so seine Schlussfolgerung und die seiner Frau Inge, „gehört auf einen Platz, wo die Leute zufrieden sind“. Jeder, den sie an ihrem Standplatz vor der gläsernen Pyramide fragen, stimme zu, dass dieser Platz hier sei.

Basisdemokratie wird gefordert, sie bekommt auf dem Markt verschiedene Namen. „Man muss machen, was das Volk will“, formuliert Carlo Fydrik drastisch, „man darf nicht am Bürger-Interesse vorbei handeln“, sagt Holger Knöchel, der Mann am Stand mit den leckeren Kuchen aus Bad Homburg, etwas galanter. Andrea Vogt, die mit Obst und Marmelade immer aus Inheiden nach Oberursel kommt, nimmt die Stimmung unter den Marktkunden wohl war. „Ich hör‘, was die Kunden sagen, da gibt es längst nur noch eine Richtung.“ Der historische Marktplatz spielt darin keine Rolle mehr, „definitiv nicht“. Auf dem Epinay-Platz stimme alles für beide Seiten, Händler und Kunden. Parkhaus direkt unter dem Platz, kurze ebene Wege, Rollator-Tauglichkeit, „die Menschen sind alle lieber hier“, stellt die stets freundliche Andrea Vogt immer wieder fest. Und die Marktbeschicker profitieren von mehr Stammkunden und der zusätzlichen Laufkundschaft vor allem an den Einkaufssamstagen. Mit „um die 25 Prozent mehr“ kalkulieren die meisten. „Fragen Sie mal die Fischfrau“, sagt die Obst- und Marmelade-Frau aus Inheiden.

Das Fähnchen der Aufrechten mit Hang zur Nostalgie und einem Das-war-schon-immer-so-Denken wird kleiner. Die Abstimmung mit den Füßen ergibt ein deutliches Bild. Für eine Mehrheit, von der Bürgermeister träumen, sind die Tage des Marktplatzes als Markt-Platz bei jeder Umfrage gezählt. Nicht, weil Ambiente und das schöne Umfeld an einem Frühsommermorgen nicht passen, es sind allein pragmatische und dem Zeitgeist geschuldete Gründe, die in Corona-Zeiten zusätzlichen Schub erhalten. „Der Marktplatz ist zwar historisch interessant, aber schwer für Ältere, das muss man berücksichtigen“, sagt Manfred Hoock, nicht mehr ganz jung, aber fit, Vater und Großvater. „Attraktivität heute ist nicht die Attraktivität von gestern“, so Hoock. Auch Anne Nasse hat zwei Blickwinkel im Auge, die wichtige Belebung von Marktplatz und Altstadt mit ihren etwas abgehängten Geschäften, andererseits die praktische Alltagstauglichkeit. Der schiefe Marktplatz, die „unmögliche Verkehrssituation“, die Nutzerqualität, da tendiert die Pensionärin mit Einkaufswagen dann doch ziemlich eindeutig zum Epinay-Platz. „Der Markt soll hier bleiben.“

Traditionsbewusstsein verrät Birgit Michelson. „Auf einen Marktplatz gehört auch ein Markt“, sagt die knapp 50-Jährige, sie findet den Ort im historischen Stadtkern aufgrund des „Ambientes generell schöner“, geht aber auch gerne auf den Epinay-Platz. Augenzwinkernd ergänzt Ehemann Dieter, der Platz in der Altstadt sei ja auch „authentischer und der schiefste Marktplatz Deutschlands“, was ebenfalls für ihn spreche. Derartige Romantik braucht Andreas Gerhard nicht, der Landwirt betreibt den Rosenhof in Griesheim und gehört mit seinem grün-weißen Zeltstand zu den „Großen“ auf dem Markt. Ist er nicht der erste Mann morgens, wenn er mal in einen Stau gerät, kommt er am Marktplatz kaum noch rein. Der Aufbau ist viel komplizierter, er braucht eine Hebebühne, muss zwei Stufen überwinden, die Schräge über die ganze Länge ausgleichen. Am Epinay-Platz haben sich die Kollegen beim Aufbau „getaktet“, jeder hat seine Zeit, alles geht viel schneller, auch bei Wind und Wetter.

„Wir wollen hier bleiben“, sagt Andreas Gerhard. Er ist einer von denen, die sich dafür einsetzen, das „Wir“ trifft inzwischen für alle Beschicker zu. Zeitabläufe, Marktabläufe, Materialbeanspruchung, Bequemlichkeit für Arbeitskräfte und Kunden, gesundheitliche Aspekte, Parkmöglichkeiten, Umfeld – der Epinay-Platz gewinnt in allen Sparten den 1:1-Vergleich mit dem Marktplatz. Dazu kommt das Mehr an Kunden in der Innenstadt und das Umsatzplus. Auch die Cafés nebenan profitieren vom Markt, alles messbare Größen. Ab dem heutigen Mittwoch, 10. Juni, liegen an den Marktständen Unterschriftenlisten aus, mit ihnen soll den Ratsherren und -frauen nachdrücklich angezeigt werden, wohin der Weg führen soll. Zum dauerhaften Markt-Platz auf dem Epinay-Platz.

Gastronomische Insel

Barrierefrei, mehr Platz, mehr Publikum. Bürgermeister Hans-Georg Brum kennt die Argumente wohl. Weiß auch, dass es „zunehmend Stimmen gibt, die eine Dauerlösung pro Epinay-Platz wollen“. Trotzdem spricht er weiter von einer „Interimslösung“, politische Beschlüsse längst vergangener Tage geben noch immer den Marktplatz als Markt-Platz vor. Die Altstadt und ihre Geschäfte und die Gastronomie dürften nicht abgehängt werden, dieser Grundsatzbeschluss ist nie revidiert worden. In Gesprächen mit dem „fokus O.“ werde darüber diskutiert, es sei „einiges in Bewegung“. Überlegungen machen die Runde, wie der Marktplatz attraktiver werden könne. Was neben Frühjahrsmarkt und Autos in der Allee, Altstadt-Flohmarkt, Brunnenfest und Weinfest, Herbsttreiben, Martinsmarkt und Weihnachtsmarkt noch alles dort stattfinden und zur Belebung beitragen könne. Der Platz als „kulinarische Insel“ etwa, durchaus auch mit Künstler-Märkten und anderen Events parallel zum Markt. Für einen Stand mit heimischem Obst und Gemüse wäre da sicher auch noch ein Eckchen frei. Oder für örtliche Kelterer.

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